Von Unerzogen über gewaltfrei bis Mindful Parenting
Erziehungstrends im Realitätscheck

Kinder an die Macht! Falsch. Kindern müssen Grenzen gesetzt werden. Oder doch nicht? Erziehung war noch nie so umstritten und herausfordernd wie heute, sagt Erziehungswissenschaftlerin Daniela Reimer. Mit ihr nehmen wir fünf aktuelle Erziehungsmodelle unter die Lupe.
Publiziert: 16.11.2020 um 01:08 Uhr
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Aktualisiert: 17.11.2020 um 23:13 Uhr
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Warum essen Kinder ihr Gemüse nicht? Wie bringen wir sie dazu? Verstehen wir, warum sie es nicht essen? Verschiedene Erziehungsmethoden zeigen unterschiedliche Richtungen auf.
Eliane Eisenring

Kinder an die Macht! Falsch. Kindern müssen Grenzen gesetzt werden. Oder doch nicht? Erziehung war noch nie so umstritten und herausfordernd wie heute, sagt Erziehungswissenschaftlerin Daniela Reimer. Mit ihr zusammen nehmen wir fünf aktuelle Erziehungsmodelle unter die Lupe.

Unerzogen

Die Idee: Diese Weiterentwicklung der Antipädagogik aus den 1970ern sieht Erziehung als Manipulation und eine Form der Gewalt. Kinder darf man nicht verändern, sonst werden sie zu Handlungen gezwungen, zu denen sie noch nicht bereit sind.

Das heisst konkret: Wenn das Kind sein Gemüse nicht isst, wird dies kommentarlos akzeptiert.

Fazit von Daniela Reimer: «Dass Kinder sich in der Regel selbst für das Gute entscheiden, wurde in Studien nachgewiesen. Die Einstellung abzulegen, dass Kinder von Natur aus schlecht seien und man das Gute erst in ihnen hervorbringen muss, ist sehr gut. Eltern müssen aber auch Verantwortung übernehmen und manchmal Entscheidungen zum Wohl des Kindes treffen.»

Gewaltfreie Erziehung

Die Idee: Körperliche, verbale, psychische und emotionale Gewalt sind tabu. Kinder sollen weder beschimpft noch bestraft oder unter Androhung einer Strafe genötigt werden.

Das heisst konkret: Isst das Kind sein Gemüse nicht, wird nicht damit gedroht, dass es keinen Nachtisch bekommt. Stattdessen erklären die Eltern, warum es wichtig ist, Gemüse zu essen.

Fazit: «Dieser Ansatz ist sehr positiv. Die Frage ist: Wie gehe ich als Elternteil mit dem Ohnmachtsgefühl um, wenn das Kind sich nicht so verhält, wie ich will? Wir wissen, dass Strafen dauerhaft nicht sinnvoll sind. Sich stattdessen mit dem Kind auseinanderzusetzen, ist wichtig, damit die Beziehung wächst.»

Mindful Parenting

Die Idee: Mindful Parenting geht davon aus, dass der Grund für ein disharmonisches Familienleben die Eltern sind. Unrealistische Ansprüche an sich selbst, Stress und Übermüdung wirken sich auf das Verhalten der Kinder aus. Eltern sollen also an sich selber arbeiten.

Das heisst konkret: Wenn das Kind sein Gemüse nicht essen will, sind die Eltern nicht gereizt, sondern gehen geduldig auf ihr Kind ein. Sie haben nicht den Anspruch, dass das Gemüse immer aufgegessen werden muss.

Fazit: «Dass sich Eltern mit sich selber auseinandersetzen, wollte schon Pestalozzi. Wissenschaftlich ist das eine alte Idee in neuen Gewändern, doch sie ist auf jeden Fall hilfreich. Eltern sollten aber nicht nur an sich arbeiten, um dem Kind einen Gefallen zu tun, sondern auch für sich selbst.»

Verständnis aufbringen

Die Idee: In «Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen» gibt Philippa Perry Tipps für eine starke Eltern-Kind-Beziehung. Verständnis ist der Schlüssel: Man soll Verhalten immer als Kommunikation sehen und verstehen, dass die eigene Erziehung unser Elternsein stark beeinflusst.

Das heisst konkret: Wenn das Kind sich weigert, sein Gemüse zu essen, versetzen die Eltern sich in seine Lage und fragen sich: Warum reagiert es so? Was will es mir sagen?

Fazit: «Der Anspruch, Kinder zu verstehen und nicht davon auszugehen, dass sie bestimmte Dinge tun, um ihre Eltern zu ärgern, ist für die Beziehung sehr förderlich. Aber auch anspruchsvoll. Wenn man das Kind versteht – auch wenn man die Handlung nicht gutheisst –, können neue Handlungsoptionen entstehen. Man kann zusammen neue Regeln definieren.»

Autoritäre Erziehung

Die Idee: Hier herrscht eine hierarchische Ordnung zwischen Eltern und Kindern. Die Eltern bestimmen Regeln, bestrafen Fehlverhalten und haben alleinige Entscheidungsgewalt. An das Kind werden hohe Erwartungen gestellt.

Das heisst konkret: Will das Kind sein Gemüse nicht essen, wird ihm befohlen, es zu tun. Nichtbefolgen wird bestraft.

Fazit: «Dieses Prinzip halte ich für überholt. Wir sind eine sehr dynamische Gesellschaft, es braucht Kreativität und Eigeninitiative, und das entsteht nicht in einer so rigiden Erziehung. Sie bietet kein Lernfeld für das, was Kinder brauchen, um in der Gesellschaft zu bestehen. Im schlimmsten Fall zerstört es ihren Selbstwert.»

* Daniela Reimer (39) hat 2016 an der Universität Siegen (D) doktoriert. Ihre Dissertation wurde mit dem Deutschen Kinder- und Jugendhilfepreis 2018 ausgezeichnet. Seit 2018 ist Reimer Dozentin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe. Sie wohnt im Kanton Zürich.

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