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Protestforscher Tareq Sydiq
«Für eine Revolution braucht es Frauen»

Proteste seien essenziell für eine funktionierende Demokratie, sagt der Forscher Tareq Sydiq. Ein Gespräch übers Stören, Klimakleber und künstliche Intelligenz.
Publiziert: 14.10.2024 um 10:20 Uhr
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Aktualisiert: 14.10.2024 um 10:21 Uhr
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Seit Jina Mahsa Aminis Tod 2022 protestieren Iranerinnen und Iraner für mehr Frauenrechte und den Sturz des Regimes.
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Auf einen Blick

  • Protest ist notwendig für die freie Meinungsäusserung
  • Protestformen haben sich durch digitalen Aktivismus stark verändert
  • KI könnte staatliche Repression erleichtern und Protestierende überwachen
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Sara BelgeriRedaktorin

Wann haben Sie zuletzt an einer Demonstration teilgenommen?
Tareq Sydiq:
Bei mir mischt sich privater Demo-Besuch mit Beobachtung von Demonstrationen. Zuletzt war ich an der grossen Demonstration gegen Rechtsextremismus in Berlin im Februar, an der rund 200’000 Menschen teilgenommen haben.

Protest muss nicht zwingend auf der Strasse stattfinden.
Nein. Protest ist eine Art von öffentlich artikuliertem Widerspruch, eine Unmutsbekundung. Das kann eine Demonstration sein, ein offener Brief, ein Protestlied – der Kreativität sind kaum Grenzen gesetzt. Mit einer Bedingung: Der Protest muss zwar nicht öffentlichkeitswirksam sein, aber er muss öffentlich artikuliert werden.

Ihr neues Buch heisst «Die neue Protestkultur». Protestieren wir heute anders als früher?
In den letzten Jahren sind Formen von digitalem Aktivismus entstanden, die früher undenkbar gewesen wären, weil es die entsprechenden Technologien noch nicht gab. Der Titel bezieht sich aber auch darauf, dass Protest sich eigentlich immer verändert. Dabei spielt auch die Gesellschaft eine grosse Rolle. Eine Gesellschaft, die im Kapitalismus lebt, wird zum Beispiel anders protestieren als eine vorkapitalistische Gesellschaft. Eine ländliche Gesellschaft protestiert anders als eine urbane. 

Die AfD hat zuletzt grosse Wahlerfolge erzielt. Hat der Protest gegen Rechtsextremismus also nichts gebracht?
Das würde ich so nicht sagen. Ich war von Anfang an skeptisch, dass die Proteste direkt die Wahlergebnisse beeinflussen würden, da viele Faktoren im Spiel sind. Was die Proteste jedoch bewirkt haben, war ein zeitweiser Rückgang der AfD-Umfragewerte. Zudem hat sich der Diskurs verschoben – früher wurde selten von Rechtsextremismus gesprochen, heute spricht man von rechtsextremen Teilen der AfD. Ein weiterer Effekt war die Politisierung vieler Menschen. Sie sind nun politisch aktiver und engagieren sich in zivilgesellschaftlichen Gruppen. Dies hat sicherlich zu einer erhöhten Wahlbeteiligung bei den letzten drei Landtagswahlen beigetragen.

Welche Faktoren begünstigen den Erfolg eines Protests?
Entscheidend ist, ob ein Protest überhaupt wahrgenommen wird – sowohl von den Medien als auch von der Politik. Medien berichten eher über spektakuläre oder innovative Proteste oder bei einer grossen Teilnehmerzahl. Politisch gesehen spielt es eine Rolle, ob ein Koalitionspartner oder Politikerinnen Interesse an den Themen des Protests haben. Diese Faktoren können den Einfluss eines Protests deutlich verstärken.

2011 war ein Protestjahr. Eine Welle von Aufständen ergriff die arabische Welt. Wann wird aus Protest eine Revolution?
Damals gab es zwar in vielen Ländern Massenproteste, aber nicht überall Revolutionen. Ein typischer Weg zur Revolution ist, wenn innerhalb des Machtapparats Brüche entstehen. Teile des Machtapparats könnten sich den Protestierenden anschliessen oder sich zurückhalten, wodurch die Situation unregierbar wird. Machtkämpfe oder die Angst vor einem Bürgerkrieg, besonders im Militär, können ebenfalls dazu führen, dass das System schliesslich kippt und eine Revolution stattfindet.

Der Protestforscher

Tareq Sydiq, geboren 1992, ist Protestforscher am Zentrum für Konfliktforschung in Marburg (D). Der promovierte Politikwissenschaftler beschäftigt sich mit Protestbewegungen weltweit und forschte hierzu in Japan, Pakistan, England und im Iran. «Die neue Protestkultur. Besetzen, kleben, streiken: Der Kampf um die Zukunft» ist sein zweites Buch.

Tareq Sydiq, geboren 1992, ist Protestforscher am Zentrum für Konfliktforschung in Marburg (D). Der promovierte Politikwissenschaftler beschäftigt sich mit Protestbewegungen weltweit und forschte hierzu in Japan, Pakistan, England und im Iran. «Die neue Protestkultur. Besetzen, kleben, streiken: Der Kampf um die Zukunft» ist sein zweites Buch.

Haben Sie ein Beispiel einer erfolgreichen Revolution?
Wir setzen Erfolg oft mit dem langfristig positiven Outcome einer Revolution gleich, was die Messlatte höher legt als nur ein Regimesturz. Betrachtet man nur den Regimesturz, gibt es mehr Beispiele, wie etwa Tunesien. Dort war die Opposition geeint, die Gewerkschaften spielten eine grosse Rolle, und das Militär zwang den Machthaber zum Rücktritt. Es folgte ein langer Transformationsprozess.

Im Sudan war das nicht der Fall.
Im Sudan sah es lange so aus wie in Tunesien. Als ich anfing, das Buch zu schreiben, dachte ich, dass der Sudan ein Beispiel für eine erfolgreiche Revolution sein wird. Die Protestierenden blieben geeint, und es gab immer wieder Spaltungen im Machtapparat, die zu Verhandlungen führten. Doch am Ende eskalierte der Konflikt zwischen den beiden militärischen Fraktionen.

Ob während des Arabischen Frühlings, im Iran oder Sudan – Frauen waren immer an vorderster Front dabei. Weshalb braucht es sie für die Revolution?
Ganz einfach: Für eine Revolution braucht es Frauen, weil sie in den meisten Gesellschaften die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Es ist also schwierig, eine Mehrheit zu mobilisieren, ohne Frauen miteinzubeziehen. Hinzu kommt, dass sie zwar in Machtpositionen unterrepräsentiert, aber in zivilgesellschaftlichen Organisationen stark vertreten sind. Im Sudan oder im Iran sind Frauen zum Beispiel traditionell in Frauenrechtsbewegungen aktiv. Das heisst, dass sie oft eine zentrale Rolle in der Gemeinschaftsbildung spielen, Organisationserfahrung mitbringen und politische Ziele verfolgen.

Kehren wir nach Europa zurück: Bewegungen wie Fridays for Future schafften es, viele Menschen für ihre Klimastreiks zu mobilisieren. Renovate Switzerland oder die «Letzte Generation» setzen auf direkte Aktionen. Welche Protestform ist nachhaltiger?
Die beiden Protestformen gehören zusammen, es gibt einen fliessenden Übergang. Für langfristige Politik sind Massenproteste vermutlich relevanter: Es wird viel berichtet, viele Menschen werden mobilisiert, und wenn Leute sich einmal politisiert haben, engagieren sie sich weiterhin – zum Beispiel bei aktionistischen Formen von Protest. Wenn es um ein konkretes Gesetz geht oder man eine Waldrodung verhindern will, können direktere Aktionen effektiver sein.

Apropos Klimakleber: Sowohl sie als auch die Bauern bei den Bauernprotesten blockierten Strassen. Die einen provozieren aggressive Reaktionen, die anderen bekamen viel Sympathie. Weshalb?
Grundsätzlich erzielen Proteste von «üblichen Verdächtigen», wie zum Beispiel Umweltschützerinnen, eher negative Reaktionen. Wenn aber unerwartete Gruppen, wie Bäuerinnen und Bauern, protestieren, wirkt es ernster. Fast wichtiger ist aber die Frage, ob ich eine Protestform für legitim halte oder nicht. Das ist oft damit verknüpft, wie nah ich selber dieser Protestgruppe stehe. So reagierte etwa ein linksliberales Milieu auf Blockaden der Bauernschaft eher genervt, aber eher mit Verständnis auf Aktionen von Klimaklebern. Genau umgekehrt verhielt es sich mit der konservativen Seite. Grundsätzlich stehen Konservative Störungen des öffentlichen Raums aber eher skeptisch gegenüber.

Immer wieder gibt es Fälle, in denen Menschen mit ihrem Auto Protestierende anfahren. In den sozialen Medien liest man von Gewaltfantasien.
In einer Gesellschaft gibt es immer ein gewisses Unverständnis für Protest. Protest soll ja auch stören, zum Beispiel, indem er etwas lahmlegt und damit Leuten auf die Nerven geht. Entscheidend ist für mich, wie die Politik darauf reagiert. 

Nämlich?
Sie kann entweder verhandeln oder Öl ins Feuer giessen. Letzteres kann sehr gefährlich sein, das sieht man am Beispiel der USA. In Bundesstaaten wie Iowa oder Oklahoma wurden Autofahrer, die absichtlich in Proteste gefahren waren, teils vor rechtlichen Konsequenzen bewahrt. Die Politik legitimiert also die Gewalt, was dazu führte, dass die Gewaltbereitschaft eskalierte. 

Sollten auch Demokratiefeinde protestieren dürfen?
Das Recht auf Protest ist ein Menschenrecht. Es ist ein Grundrecht, das unabhängig vom politischen System, in dem ich lebe, geschützt ist. In Demokratien gibt es immer auch antidemokratische Proteste, die sind aber nicht systemgefährdend. Wenn eine antidemokratische Kraft sich parlamentarisch oder medial organisiert, ist das demokratiegefährdender als ein Strassenprotest. Und für diese anderen Aktivitäten haben wir durchaus auch Möglichkeiten, dagegen vorzugehen. Wir können Vereine verbieten. Wir können rechtlich gegen Demokratiefeinde vorgehen. Solange sie nicht in Hetzjagden oder Ähnliches umschlagen, müssen Proteste, die sich an geltendes Recht halten, akzeptiert und ausgehalten werden.

Wie wird die künstliche Intelligenz den Protest beeinflussen?
Das hängt davon ab, wie schnell sich diese weiterentwickeln wird. Klar ist: KI macht viele Technologien zugänglicher, zum Beispiel die automatische Texterkennung und Videoauswertung. Das kann die staatliche Repression erleichtern. Protestierende müssen sich an diese Überwachung anpassen. Sie können KI aber auch zur Entwicklung von Gegenstrategien nutzen, etwa zur automatischen Erstellung von QR-Codes oder PR-Materialien. Allerdings wird KI kommerziell betrieben, dadurch kann der Zugang staatlich reguliert werden. Wenn ich im Iran von US-Sanktionen betroffen bin und keine amerikanische Kreditkarte habe, dann kann ich schon mal nicht so gut auf die KI zugreifen. Wenn ich in China durch die grosse Firewall keinen Zugriff auf bestimmte Unternehmen habe, kann ich KI vielleicht auch nicht verwenden. Diese Asymmetrie bedeutet, dass Staaten besseren Zugriff auf KI-Technologien haben als Protestierende. 

Protest stört. Protest irritiert. Weshalb brauchen Demokratien trotzdem Proteste?
Liberale Demokratien müssen Minderheiten schützen. Protest ist notwendig für die freie Meinungsäusserung, die für eine informierte Meinungsbildung und damit für freie Wahlen entscheidend ist. Ich muss meine Meinung im öffentlichen Raum gemeinsam mit anderen Menschen kundtun können. Dieses Grundrecht ist zentral für die Funktionsweise einer Demokratie.

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