Jeder Mensch kommt gewissermassen schwimmend zur Welt, die Geburt ist wie ein Stranden. Ähnlich einem Fisch entwickeln sich beim Embryo in der dritten bis fünften Schwangerschaftswoche Kiemenbögen, und bereits ab der zehnten Woche schwimmt er im warmen Fruchtwasser des Mutterleibs. Nach neun Monaten dann das Platzen der Blase und die Ankunft auf der kalten Erde – es ist zum Schreien!
Schon in der Antike stranden menschengleiche Götter bei ihrer Geburt. So erzählt ein griechischer Mythos, wie Kronos seinen Vater Uranos entmannt, als er die Mutter Gaia vergewaltigen will. Kronos wirft das blutige Gemächt hinter sich ins Meer – und aus dem Wasser entsteigt Liebesgöttin Aphrodite, zu Deutsch: die Schaumgeborene. Sandro Botticelli (1445–1510) hat das im Gemälde «Die Geburt der Venus» – die römische Aphrodite – 1485 festgehalten.
«Meerwasser in unseren Adern»
Das Leben kommt aus dem Wasser – kein Zufall, weisen Blut und Meerwasser grosse Ähnlichkeit auf. Der deutsche Molekularbiologe Andreas Beyer (62) redet gar von Geschwistern, denn im Blutplasma finde man Chlorid, Kalium, Kalzium und Natrium – im selben Mengenverhältnis wie im Meerwasser. Reines Blutplasma würde auf der Zunge nach Ozeanen schmecken, weshalb weisse Blutkörperchen in Letzteren einige Zeit leben und funktionieren könnten.
«Salopp könnte man formulieren, dass die vielzelligen Lebewesen es geschafft haben, das Meer ins Körperinnere mitzunehmen», sagt der deutsche Chemie-Ingenieur Martin Neukamm (52). Und die US-amerikanische Leistungsschwimmerin und Autorin Bonnie Tsui (47) schreibt in ihrem Bestseller «Why We Swim»: «Ich stelle mir vor, dass wir Meerwasser in unseren Adern haben, und freue mich über dieses gar nicht so unrealistische Bild.»
Wir kommen aus dem Wasser, bestehen aus Wasser (beim Säugling macht es bis zu 85 Prozent aus, beim Erwachsenen noch ungefähr 70 Prozent), doch wir sind nicht fürs Wasser geboren: Der Mensch ist kein geborener Schwimmer – im Gegensatz zu den meisten anderen Säugetieren, die instinktiv schwimmen können. Selbst grosse Elefanten können sich problemlos über Wasser halten.
Erst kürzlich sorgten zwei Löwen-Brüder für Schlagzeilen, die Anfang 2024 in Uganda einen 1,5 Kilometer breiten Kanal in der Nacht durchschwammen – und das, obwohl Katzen nicht gerne ins Wasser gehen. Fachleute, die die Aktion mit Infrarotkameras dokumentierten, gehen davon aus, dass die beiden Männchen diesen Rekord aufstellten, um auf der anderen Uferseite Weibchen für die Zeugung des Nachwuchses zu suchen.
4000 Jahre alte Zeichnungen in der «Höhle der Schwimmer»
Obwohl wir vom Fisch abstammen, seien wir Menschen Landtiere, die zu schwimmen versuchen, sagt der US-amerikanische Paläontologe Paul Sereno (66): «Wir sind das, was man sekundäre Schwimmer nennt.» Einmal auf der Welt, müssen wir das Schwimmen zuerst erlernen. Auch wenn wir im Wasser nach dem archimedischen Prinzip Auftrieb erleben und uns leichter fühlen – ohne koordinierte Schwimmbewegungen gehen wir unter.
Aber was treibt uns an, schwimmen zu wollen, wenn wir uns doch dank Brücken, Tunnels, Schiffen und Flugzeugen trockenen Fusses über die Erde bewegen können? Ist es die Psyche, die uns das wohlige Gefühl im Mutterleib in Erinnerung ruft, wie der US-amerikanische Evolutionsbiologe Neil Shubin (63) meint? Oder sind es genetische Gründe, weil unsere Vorfahren am Wasser lebten, wie sein deutscher Kollege Carsten Niemitz (78) vermutet?
In erster Linie dürfte es Überlebenswille sein, denn aus Erfahrung weiss man: Nicht jede Brücke hält, und manches Schiff geht unter. In Kriegen, wo Boote willentlich versenkt werden und man Flüsse überqueren muss, um Feinden zu entkommen, hat Schwimmen seit Urzeiten eine wichtige Bedeutung. Japanische Samurai mussten gar mit einer 20 Kilogramm schweren Rüstung kraftvoll und schnell schwimmen können.
Älteste Zeugnisse schwimmender Menschen sind die mindestens 4000 Jahre alten Malereien in der «Höhle der Schwimmer» im Gilf-el-Kebir-Hochplateau ganz im Südwesten Ägyptens an der Grenze zu Libyen. Die rötlichen Felszeichnungen schwebender Gestalten mit ausgestreckten Armen und Beinen entdeckte der ungarische Forscher Ladislaus Almasy (1895–1951) im Jahr 1933. Doch der Mensch dürfte schon seit prähistorischer Zeit schwimmen.
Weltweit erstes Schwimmbuch von einem Schweizer
Und immer wieder kommen Schwimmhilfen zum Einsatz: 400 v. Chr. schickte der römische Feldherr Camillus (446–365 v. Chr.) einen Boten mit einem Schwimmbrett aus Kork über den Tiber, Leonardo da Vinci (1452–1519) fertigte Zeichnungen von Schwimmflossen an, 1908 waren aufblasbare Schwimmflügel in London ein Verkaufshit, und 2017 kam in China der kleine Tauchscooter «Whiteshark Mix» auf den Markt.
Aber all diese Hilfsmittel können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Schwimmunterricht braucht, um sich über Wasser halten zu können. Darauf weist jedes Jahr die Weltgesundheitsorganisation hin, wenn sie den 25. Juli zum «Welttag gegen das Ertrinken» erklärt und bekannt gibt, dass jährlich mindestens 236’000 Menschen durch Ertrinken sterben – Bootsunglücke nicht eingerechnet.
Im Vergleich zu hoch entwickelten Nationen ertrinken in Asien etwa 20-mal so viele Menschen. Bei den Ein- bis Vierjährigen ist dort der Tod durch Ertrinken die häufigste Todesursache. In Bangladesch ertrinken jährlich 18’000 Menschen, in Vietnam 13’000 und in Thailand 2600. Zum Vergleich: Laut Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU) ertrinken in der Schweiz durchschnittlich 65 Personen pro Jahr.
Ein Schweizer wars, der 1538 das weltweit erste Schwimmbuch veröffentlichte: «Colymbetes, sive de arte natandi», zu Deutsch «Colymbetes oder: über die Schwimmkunst», vom aus Saanen BE stammenden Humanisten und Sprachgelehrten zu Ingolstadt (D) Nikolaus Wynmann (1510–1550). Auch wenn am Limmatquai in Zürich Kinder schon damals in den Fluss sprangen, war das Schwimmen noch immer etwas Ungewöhnliches.
«Konstanter Zustand des Nichtertrinkens»
«Du wirst es beinahe spielend lernen, wenn du recht sorgfältig zusiehst, wie die Frösche mit den Hinterbeinen schwimmen.» Mit diesen Worten propagierte Wynmann das Brustschwimmen. Dafür kritisieren ihn die Kirchenoberen: Wie kann Gott wollen, dass der Mensch als Krone der Schöpfung von einem so niedrigen Tier wie dem Frosch lernt? Und sie setzten das Schwimmbuch auf den Index.
«Brustschwimmen gilt oft als der langsamste Stil, aber ich mag ihn am liebsten», schreibt Bonnie Tsui. «Man muss bei jedem Zug mit erhobenem Kopf atmen; ihm fehlt die unverhohlene, schäumende Energie des Kraulens und des Rückenschwimmens und die angeberische, sprudelnde Show des Schmetterlingstils.» Kurioserweise entwickelte sich «Butterfly» in den 1930er-Jahren aus dem Brustschwimmen.
«Schwimmen ist in unserer menschlichen Definition ein konstanter Zustand des Nichtertrinkens», schreibt Bestsellerautorin Tsui in «Why We Swim» weiter. Zunächst schwimme man, um im Wasser zu überleben, so die frühere Spitzensportlerin, die heute noch täglich schwimmen geht. «Aber wenn wir erst einmal gelernt haben, im Wasser zu überleben, kann es mehr für uns sein.» So viel mehr!
Den Auftrieb spüren, sich treiben lassen, schwerelos sein, Freiheit – das seien Worte, die wir benutzen, wenn wir über unsere Gefühlslagen beim Schwimmen reden. Und Tsui fragt rhetorisch: «Ist es ein Zufall, dass es genau die gleichen Worte sind, mit denen wir auch die Leichtigkeit des Daseins und unser Wohlbefinden beschreiben, das wir in der körperlichen Welt suchen?»
Jubel, Trubel, Heiterkeit!
Gerade jetzt ist diese Lebensfreude in Freibädern, an Seeufern und Meeresstränden hörbar: Jubel, Trubel, Heiterkeit! Wasser macht selbst Erwachsene wieder kindlich unbeschwert und verspielt, ein Zustand, den sie vergessen haben. «Schwimmen ist der einzige Zustand, den ich kenne, in dem ich mich frei fühle», schreibt US-Autorin Lidia Yuknavitch (61) in ihrem Bestseller «The Chronology of Water» (2020).
Kalt geduscht ins Wasser hechten oder heissgeschwitzt durch den Wald hecheln ist eben nicht dasselbe. Nicht zufällig ist Schwimmen nach Wandern und Velofahren die drittbeliebteste Sportart in der Schweiz – noch vor Skifahren und Joggen. Internationale Studien zeigen, dass bei identischen Trainingsprogrammen das Schwimmen den Menschen am meisten Spass macht. Und was Freude bereitet, das übt man gerne aus.
«Ich geniesse das Meer», schrieb der britische Dichter Lord Byron (1788–1824). «Ich komme immer mit einem Schwung aus dem Wasser, wie ich ihn sonst nie erlebe.» Eine Erkenntnis, die sich der britische Neurologe und Autor Oliver Sacks (1933–2015, «Awakenings») zunutze machte: Er «schrieb» seine Bücher, während er schwamm, im Kopf, stieg klatschnass aus dem Pool und machte sich gleich Notizen.
Noch bevor Lord Byron in der Tejo-Mündung Lissabons, durch den ganzen Canal Grande in Venedig oder von einer Themse-Brücke zur nächsten durch London schwamm, nahm USA-Gründervater, Schriftsteller und Erfinder Benjamin Franklin (1706–1790) während seines Aufenthalts in der britischen Hauptstadt täglich ein Flussbad – 1726 schwamm er einmal über 5,5 Kilometer von Chelsea nach Blackfriars.
Schwimmen fördert Gelassenheit, Geduld und Mut
Nicht gerade in die Themse, aber immerhin in die Weimarer Ilm ging Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) – das dafür auch winters und in der Nacht. Am 2. Juli 1776 notierte er: «Nachts halb elf, der Mondschein war so göttlich, ich lief noch ins Wasser.» Goethe hatte sich das Schwimmen selber beigebracht, schwärmte von der wohltuenden Wirkung des Wassers und war überzeugt, dass es für Disziplin und gegen Depressionen wirkt.
«Unser Glaube an das Wasser als Allheilmittel reicht bis in die Antike zurück», schreibt Tsui in «Why We Swim». Alte japanische Texte lehren etwa, dass das Schweben des Körpers auf dem Wasser zu Gelassenheit führt, das Eintauchen Geduld lehrt und das Untertauchen Mut fördert. «Das Eintauchen erzeugt eine innere Ruhe», schreibt Tsui. «Manchmal möchte man schwimmen, bis man ganz leer im Kopf ist.»
Den meditativen Zustand erreiche man beim Bahnenzählen, so Tsui weiter, oder beim Beobachten des zarten Spiels der Sonnenstrahlen auf dem blauen Wasser. Im Buch «Die Kunst, sich zu verlieren» (2009) beschreibt die US-amerikanische Kulturhistorikerin Rebecca Solnit (63) Blau als die Farbe des Orts, an dem man nicht ist – ein Sehnsuchtsort.
Wahrscheinlich zieht uns diese Sehnsucht ins Wasser, macht uns zu Schwimmerinnen und Schwimmern. Tatsache ist, dass nur schon der Anblick von Bach, Fluss oder Meer heilende Wirkung hat: Untersuchungen zeigten, dass sich Personen nach einer Operation schneller erholen, wenn sie von ihrem Bett aus Bilder mit bewegtem Wasser sehen – schneller als mit Fotos von ruhenden Wäldern.