Martin Walser – Nachruf auf einen Freund
Das Monument

Der deutsche Schriftsteller starb am Freitag im Alter von 96 Jahren. Publizist Matthias Ackeret war eng mit ihm befreundet, kommt sogar in dessen Werk vor. Für SonntagsBlick erinnert er sich.
Publiziert: 30.07.2023 um 09:12 Uhr
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Der deutsche Schriftsteller Martin Walser ist mit 96 Jahren am Bodensee gestorben.
Foto: keystone-sda.ch
Matthias Ackeret*

Martin Walser war ein Monument. Als ich ihm im Frühjahr 1998 im Meersburger Lokal «Zum Becher» erstmals leibhaftig begegnete, verschlug es mir die Sprache. Es gehörte zu den Eigenheiten der walserschen Aura, dass man gegenüber dem wortgewaltigen Autor sofort respektvoll verstummte. Nicht ohne Grund: Wer Walser begegnete, hatte 70 Jahre personifizierte deutsche Nachkriegsliteratur vor sich.

Von Antihelden und Unglücksglück

Sein gigantisches Werk, das rund 30 Romane, Essays, politische Kommentare und auch Gedichte umfasst, widerspiegelt nicht nur den Aufstieg der Bundesrepublik aus den Trümmern des Dritten Reichs, sondern beschreibt auch die Abgründe und Eigenheiten ihres Personals. Walsers Protagonisten – meist Lehrer, Immobilienhändler oder Chauffeure – hadern ständig mit ihrer Existenz, doch gerade diese permanente Glückssuche rechtfertigt ihre Existenz. Walsers Helden sind Antihelden, das «Unglücksglück» – sein Lieblingswort – ihre Triebfeder. Keiner hat Deutschland genauer seziert als Walser; ein Präzisionsgenie, das über diejenigen schreibe, so gestand er einmal, die nachts an ihre Chefs denken, wohl wissend, dass diese dies nicht tun.

Ich lese Walser seit 45 Jahren. Mein erster Walser-Roman «Ein fliehendes Pferd» war eine literarische Offenbarung. Als Lehrerssohn aus dem Zürcherischen Weinland war mir nicht nur das Milieu seiner Bücher, sondern auch die Bodenseeregion bestens bekannt. Walser hat das schwäbische Meer, Hauptplatz vieler seiner Romane, zu seinem See, zu seiner Bühne gemacht. Ein Hauptplatz zwischenmenschlicher und auch erotischer Eskapaden. Wer an den Bodensee denkt, denkt an Walser. Sogar als Nichtleser. Mehr kann Literatur nicht erreichen.

Walser und die Schweiz

Walsers Popularität zeigte sich bei seinen ausgedehnten Lesetouren durch den deutschsprachigen Raum, die ein permanentes Happening waren. Unter 150 Leuten, so erklärte er mir einmal, trete er gar nicht auf. Ein literarischer Frank Sinatra, mit dessen Ableben trotz seines biblischen Alters niemand so richtig rechnete. Als erklärter Walser-Fan nehme ich für mich in Anspruch, möglicherweise am meisten Walser-Lesungen besucht zu haben, sei es in Stuttgart, München, Berlin, Ulm, aber auch Gammertingen, Bad Schussenried, Weimar und immer wieder Zürich. «Bisch au wieder do», begrüsste mich Walser jeweils erfreut. Ich nickte, meist stumm. Dass er mich in seinem Roman «Angstblüte» als literarische Figur verewigte, macht mich unheimlich stolz.

Zur Schweiz hatte der Grossschriftsteller ein besonderes Verhältnis: Von seinem Haus in Nussdorf erblickte man das Thurgauer Ufer und nach dem medialen Aufruhr um den Reich-Ranicki-Roman «Tod eines Kritikers» überlegte er vor 20 Jahren sogar für einen kurzen Moment, in die Schweiz zu ziehen. Er machte es nicht. Dafür siedelte er einen seiner letzten grossen Romane «Muttersohn» im Kloster Rheinau an, wo sich Christoph Blochers Musikinsel befindet.

Der Schriftsteller war Show- und Marketingtalent

Walser verfügte nicht nur über ein enormes Show-, sondern auch Marketingtalent. Als Sohn eines Kohlenhändlers verstand er sich als Kleinunternehmer und Handelsreisenden in Sachen Literatur. Bezeichnenderweise machte er seine ersten medialen Gehversuche als Redaktor beim damals neu gegründeten Südwestfunk, so konzipierte er auch eine Sendung über Hazy Osterwald. Doch statt ins Fernsehen zog es ihn in die Literatur. So stand der Verstorbene seit den 50er-Jahren – dem Erscheinen seines ersten Romans «Ehen in Philippsburg» – auf der öffentlichen Bühne und machte sich – für einen Schriftsteller ungewöhnlich – selbst zum streitbaren Objekt: sei es als Kommunistensympathisant während der Adenauerzeit, als vehementer Gegner des Vietnamkriegs, als Befürworter der Wiedervereinigung in den 70er-Jahren oder als anfänglicher Kritiker des Berliner Holocaust-Mahnmals, was ihm viel Kritik eintrug und möglicherweise sogar den verdienten Nobelpreis kostete.

Walser fühlte sich missverstanden und entschuldigte sich dafür. Er, der als einer der Ersten schonungslos über die Holocaust-Prozesse und die deutschen Verbrechen berichtete. Manchmal war sogar Walser überrascht, wie viel Reaktion seine Provokationen auslösen konnten. Seine Dauerfehde mit Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki beschäftigte, erregte und amüsierte die ganze Nation.

Mit Postkartengrüssen in Walsers Universum

Als ich Walser vor 25 Jahren erstmals begegnete, hatten mein Freund Manfred Klemann und ich kurz zuvor unseren Weltreiseroman «Die ganze Welt ist Ballermann – Karten an Martin Walser» publiziert. Innert drei Wochen hatten wir 1996 die Welt im Flugzeug im Eiltempo umrundet und unserem Lieblingsautor von allen Stationen auf allen Kontinenten eine Postkarte gesandt, um ihm – so zur Begründung – aufzuzeigen, dass die Welt doch mehr sei als schwäbische Provinz und Bodenseeidylle. «Südafrika ist nicht so, wie du es beschreiben würdest», schrieben wir aus Kapstadt an den uns damals persönlich unbekannten Walser und grüssten ihn und seine Familie. Später schwärmten wir postalisch von der Chinesischen Mauer oder von Ukulele-Klängen in Bora-Bora. Als wir nach einem Zwischenstopp in Barcelona («Lieber Martin, Barcelona ist ein Gaudi») endlich auf Mallorca ankamen, forderten wir den Starautor vom berühmt–berüchtigten Ballermann 6 per Telegramm auf, uns am Zürcher Flughafen abzuholen.

Wie Walser Humor und Bescheidenheit bewies

Doch Walser kam nicht. Stattdessen erfolgte nach Erscheinen unseres Weltreisebuches eine Einladung von Walsers Haussender SWR, um mit dem Schriftsteller über die ungewöhnliche Postkartenflut zu sprechen. Erwartet hätten wir eher eine Ehrverletzungsklage oder zumindest eine Strafandrohung wegen Stalking. Doch das Gegenteil geschah: Walser bewies Humor und erkannte das Ganze als gelungenes Ferienhappening. Und so sassen wir in Meersburg, direkt an seinem geliebten Bodensee, wo der Fernsehtalk aufgezeichnet werden sollte, und erwarteten zusammen mit der TV–Equipe Walser.

Paradoxerweise erschien gleichentags sein Jahrhundertroman «Ein springender Brunnen», in dem er auf eindrückliche Weise seine Jugend während der Hitler-Jahre schilderte. Doch statt über deutsche Schuld diskutierte er nun im deutschen Fernsehen mit zwei Jungspunden über feuchtfröhliche Ferienrituale auf der Balearen-Insel. Walser tat dies mit seiner ihm eigenen Lässigkeit. «Ich war noch nie am Ballermann», gestand der Schriftsteller vor den Fernsehkameras in breitestem alemannischem Dialekt, «aber literarisch isch es sicher – und das isch äs Wichtigste».

*Matthias Ackeret (60) ist ein Schweizer Journalist, Verleger, Buchautor und Publizist.

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