In einem Block nahe beim Zürichsee in Männedorf öffnet Ruth Baumgartner (78) die Türe zu ihrer Privatschule 3x3. In der 7-Zimmer-Wohnung im Parterre unterrichtet sie alleine seit 20 Jahren Kinder mit herausforderndem Verhalten und besonderen pädagogischen Bedürfnissen. Aktuell hat die Schule neun Schüler im Alter von 7 bis 14 Jahren, alles Buben.
Mit 78 Jahren arbeiten Sie immer noch Vollzeit als Lehrerin und Schulleiterin. Warum?
Ruth Baumgartner: Ich mache das mit grosser Begeisterung und habe eine so grosse Kompetenz erworben, mit diesen Kindern umzugehen, dass es schade wäre, aufzuhören. Mir scheint, wenn man etwas so gut kann und es Kinder hat, denen das guttut, ist es eine Art Pflicht und Verantwortung, weiterzumachen.
Was, wenn Sie doch mal aufhören?
Dann ist es mit dieser Schule vorbei. Es liegt nicht allen, diese Arbeit zu machen. Und ich kann keine Energie dafür aufwenden, jemanden zu suchen. Darum bin ich auch froh, gibt es nun mein Buch über die Schule 3x3.
Ihr Buch ist Ihr Vermächtnis?
Ja, es gibt in Form eines Werkstattberichts Einblick in meine Methoden und meine Haltung den Kindern gegenüber.
An Ihre Schule kommen Kinder, die andernorts nicht tragbar waren. Wie sind diese Kinder?
Sie sind frech, werfen Möbel umher, versuchen abzuhauen. Sie wollen sich nichts sagen lassen. Man platziert sie schliesslich in den Büros der Schulleitungen, das ist der letzte sichere Ort, wenn sich die anderen Kinder vor ihnen fürchten. Und dann kommen sie hierher. Manchmal habe ich auch Kinder mit Lernschwierigkeiten. Sie sind viel einfacher vom Verhalten her.
Ruth Baumgartner (78) unterrichtet seit fast 60 Jahren auf allen Stufen der Primarschule. 2003 gründete sie die Schule 3x3 in Männedorf ZH, die sie noch heute führt. Die kleine, staatlich anerkannte Privatschule nimmt Kinder in einer schulischen Notsituation auf. Über ihre Erfahrungen hat Ruth Baumgartner das Buch «Die Happy-End-Maschine» geschrieben (hep, 2023). Sie ist verheiratet, dreifache Mutter, vierfache Grossmutter und lebt in Küsnacht am Zürichsee.
Ruth Baumgartner (78) unterrichtet seit fast 60 Jahren auf allen Stufen der Primarschule. 2003 gründete sie die Schule 3x3 in Männedorf ZH, die sie noch heute führt. Die kleine, staatlich anerkannte Privatschule nimmt Kinder in einer schulischen Notsituation auf. Über ihre Erfahrungen hat Ruth Baumgartner das Buch «Die Happy-End-Maschine» geschrieben (hep, 2023). Sie ist verheiratet, dreifache Mutter, vierfache Grossmutter und lebt in Küsnacht am Zürichsee.
Gab es schon immer Kinder, die sich so unangepasst verhalten?
Ich unterrichtete schon vor 45 Jahren einen Buben, der genauso war. Es gibt heute aber sicher mehr solche Kinder.
Wo sehen Sie die Gründe dafür?
Viele Eltern fragen die Kinder ständig: «Isch guet?» Sie haben heute eine ganz andere Stellung.
Nämlich?
Viele Kinder werden als Partner angeschaut. Das sind sie aber nicht: Ich habe eine Verantwortung für das Kind. Umgekehrt hat das Kind keine Verantwortung für mich. Ich sage den Kindern immer, dass wir als Menschen alle gleich viel wert sind. Aber ich habe eine andere Rolle.
Sie bügeln also aus, was im Familiensystem schiefläuft.
Das ist nicht mein Auftrag, aber manche Eltern getrauen sich nicht, ihr Kind zu führen. Das Kind hat zu viel Macht.
Haben die Eltern Angst vor der Reaktion des Kindes?
Ja, leider. Führen ist nicht altertümlich oder streng, sondern hat mit Fürsorge zu tun. Wenn ich klar führe, spürt das Kind, dass ich mich interessiere. Dass ich will, dass es etwas auf eine bestimmte Art macht und ein Nichtbefolgen Konsequenzen hat. Diese Klarheit tut Kindern gut.
Die Kinder, die an Ihre Schule kommen, haben einen Stempel als Problemschüler. Wie knacken Sie sie?
Man darf nicht vergessen: Das sind alles entmutigte Kinder. Sie müssen von Anfang weg spüren, dass ich es gut meine mit ihnen. Dass ich etwas will von ihnen, aber ihnen auch etwas gebe.
Was heisst das konkret?
Ich verlange von Beginn weg, dass sich ein neues Kind an meine Anweisungen hält, und bestärke es mit positiven Rückmeldungen. Manchmal tut ein Kind sofort blöd, wenn ich es lobe.
Warum?
Es hat so viel Negatives erlebt, dass es dem Lob nicht traut. Ein anderes Kind kommt nicht, wenn ich es zu mir rufe. Es ist sich gewohnt, dass es zusammengeschissen wird, wenn es gerufen wird. Ich arbeite daran, dass das Kind lernt, sich zu beobachten und zu reflektieren. Es soll nicht sofort Angst haben, gerügt zu werden. Ich muss auf jedes Kind anders eingehen.
Dazu fehlen den Lehrpersonen an der Volksschule wohl die Kapazitäten.
Nicht unbedingt. Man darf nicht vergessen: In einer Klasse hat es viele Kinder, um die man sich nicht gross kümmern muss. Ich habe früher immer schon auf den Pausenplätzen geschaut, wo die Alphatiere sind. Die muss man für sich gewinnen. Wenn man gute Chefs in einer Klasse hat, läuft es rund.
Haben Sie auch mal Angst vor einem Kind?
Ja. Ich hatte einen Buben hier, der hat mit schweren Bauklötzen auf die Schläfen gezielt, der ging auf mich und andere los. Ich hatte blaue Armgelenke, weil er gekratzt und mich gepackt hat. Er hat das Mobiliar zerstört.
Wie lange behielten Sie ihn an Ihrer Schule?
Über zwei Jahre. Ich habe verschiedene Massnahmen gemacht, phasenweise funktionierte es besser. Doch es ging auf Dauer nicht.
Wo kann ein Kind hin, wenn es hier nicht integriert werden kann?
In ein Heim oder in ein Einzelsetting. Das habe ich eine Zeit lang auch gemacht, er kam morgens immer schon um halb sieben. Er war so ein herziger Bub. Aber wenn ihm etwas nicht passte, ist er ausgerastet.
Und wann kann ein Kind zurück in die Volksschule?
Die Kinder müssen hier lernen, sich zu beruhigen, mit Widerständen umzugehen. Sie müssen den Mut haben, zu reflektieren. Beim Schulstoff arbeite ich extrem leistungsorientiert, die Kinder arbeiten sehr engagiert. Sie wollen lernen. Ich freue mich, wenn ein Kind den Sprung zurück in die Regelschule schafft.
Was macht eine gute Lehrperson aus?
Das Wichtigste ist, dass man den Mut hat, zu führen. Gleichzeitig braucht es den Mut, inkonsequent zu sein.
Wie meinen Sie das?
Auch in einer Situation, in der ich durchgreifen muss, sorge ich dafür, dass das Kind meine Wertschätzung spürt. Ich spreche dann etwas länger mit ihm oder übernehme auch mal einen kleinen Teil der Extra-Schreibaufgabe.
Sie sind fast 60 Jahre Lehrerin, andere verlassen den Beruf erschöpft frühzeitig.
Tatsächlich steht eine Lehrperson jeden Tag vor einer neuen Herausforderung. Mich erschöpft das nicht. Ich kann mich gut zurücknehmen. Wenn die Kinder blöd tun, nehme ich das nicht persönlich. Das ist mein Job. Doch natürlich macht es trotzdem etwas mit einem. Dafür gibt es die Supervision. Es sollte niemand Schule geben ohne Besprechungen mit einer Fachperson.
Wo sehen Sie die Gründe für den Mangel an Lehrpersonen?
Lehrer stehen heute von allen Seiten unter Druck. Ich kann nachfühlen, dass sie schwere Lasten zu tragen haben. Es ist extrem anspruchsvoll, Lehrperson zu sein.
Oft hört man, die Eltern hätten eine hohe Anspruchshaltung an die Schule.
An der Volksschule geht es für die Eltern um Leistung und Gymi-Übertritt. Den Eltern der Kinder hier fällt es schwer, dass ihr Kind in diese Schule kommen muss. Doch sie merken, dass es dem Kind gut geht, und ich bekomme in der Folge nur Wertschätzung.
Sie erleben also das Gegenteil.
Ja, die Eltern sind glücklich. Sie sagen: Jetzt habe ich wieder ein Kind und nicht einfach ein Problem.
Die Grenzen der integrativen Schule werden aktuell intensiv diskutiert. Was meinen Sie?
Das ist so anspruchsvoll! Die schwierigen Kinder sind Künstler darin, Erwachsene auszuspielen, zum Beispiel die Lehrperson und die Heilpädagogin. Damit haben die öffentlichen Schulen zu kämpfen.
Sehen Sie Chancen für die integrative Schule?
Ja, ich finde es schon etwas Gutes! Es braucht aber eine ganz klare Haltung und Führung. Die Lehrerin darf ihre Führungsrolle nicht an die Heilpädagogin abgeben. Sonst gibt es ein Gnusch.
Wie startete Ihre Laufbahn als Lehrerin?
Ich war 20 Jahre alt und stand auf dem Land vor drei Klassen samt Hilfsschülern, wie man damals sagte. 16 Kinder in einem kleinen Schulzimmer. Meiner Vorgängerin war es zu viel gewesen. Mir fiel es leicht.
Als Sie als Lehrerin anfingen, sassen die Kinder brav in langen Tischreihen.
Die Rahmenbedingungen waren damals einfacher. Die Eltern gaben dem Kind zu verstehen, dass es in der Schule zu folgen hatte. Die Lehrerin hatte einen anderen Stellenwert und wurde weniger infrage gestellt.
Früher widmeten sich alle Kinder während je 45 Minuten demselben Stoff. Heute arbeiten Kinder häufig selbständig und im eigenen Tempo. Wie hat sich der Blick auf das lernende Kind verändert?
Man hat gemerkt, dass es eine Illusion ist, zu meinen, nur weil alle in der zweiten Klasse sind, sind alle in der Entwicklung gleich weit. Das führte zur Individualisierung.
Bald ist das Schuljahr zu Ende. Was bleibt Ihnen besonders positiv in Erinnerung?
Ich habe eine heikle Schüler-Konstellation mit einem sehr herausfordernden Alpha. Es freut mich, was ich mit der Gruppe hinbekommen habe, wie die Buben funktionieren und miteinander umgehen. Das war viel harte Arbeit für mich. Da muss ich mir selbst ein Kränzchen winden.
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