Wer mit dem Zug von Olten nach Bern fährt, rast wenige Meter an einem alten Industriegelände vorbei. Das Areal ist über 600 Meter lang. Moos wächst über die Dächer, kaputte Rohre hängen an den Hauswänden, Scheiben sind eingeschlagen. Der einzige Farbtupfer: ein paar Graffitis. Was die meisten Passagiere beim Blick aus dem Fenster wohl nicht wissen: Das hier ist ein Konfliktgebiet.
Seit 1993 und dem damaligen Ende der über 100-jährigen Geschichte der Buntweberei Gugelmann ist das Areal im bernischen Roggwil grösstenteils verwaist. Die Einheimischen bezeichnen es als «Schandfleck». Einzig das Verkehrssicherheitszentrum Mittelland und die grösste Benziner-Indoor-Kartbahn der Schweiz beleben das Gelände. Dank dem «Race Inn» ist Roggwil über die Region hinaus bekannt. Techno-Fans erinnern sich zudem an die gigantischen Partys auf dem Areal in den 90er-Jahren. Doch die Zukunft des Gugelmann-Geländes sorgt für mächtig Ärger. Der deutsche Discountriese Lidl will hier ein Verteilzentrum bauen. Das Projekt spaltet die Gemeinde. Und steht für eine Entwicklung, die in der ganzen Schweiz zu beobachten ist.
«Lidl wäre für Roggwil eine riesige Chance», sagt Adrian Gasser (80), der mit seiner Lorze Logistik AG das Gugelmann-Areal besitzt. Er hat es vor fünf Jahren an den deutschen Discounter mit Rücktrittsrecht seitens Lidl verkauft. Der grösste Kritiker davon ist Fredy Lindegger (57). Der Präsident der Grünen Oberaargau meint: «Der Standort ist ungeeignet!» Mittlerweile beschäftigt der Lidl-Bau das Berner Verwaltungsgericht. Es geht um Geld, Verkehr und Arbeitsplätze.
Industrie-Boom in der Region
Roggwil ist kein Einzelfall in der Region. Im Umkreis von zwölf Kilometern sind ähnliche Millionenprojekte im Gang. In Neuendorf SO und Egerkingen SO will die Migros ihr bereits ein Kilometer langes Verteilzentrum erweitern. Auch die Post plant einen Ausbau des Paketzentrums. In Wikon LU arbeitet Planzer an der A2 an einem Neubau. Coop will das Verteilzentrum in Wangen bei Olten SO vergrössern. Die Transport- und Logistikfirma Murpf expandiert in Hägendorf SO. Viele der Vorhaben stossen auf Widerstand in der Bevölkerung.
Doch weshalb ist gerade diese Region derart beliebt bei Unternehmen? «Aufgrund der guten Autobahnschlüsse (Verkehrskreuz der Ost-West- sowie Nord-Süd-Achsen). Zudem sind die Landpreise nicht ganz so hoch wie in den Gebieten näher bei den grossen Wirtschaftszentren», erklärt Daniel Stocker vom internationalen Immobiliendienstleister Jones Lang LaSalle (JLL). Er betont, dass der Logistikmarkt seit mehreren Jahren wächst. «Treiber dieser Entwicklung sind die global stärker vernetzte Wirtschaft und das Wachstum des Onlinehandels, auch wenn diesbezüglich zuletzt wieder leicht rückläufige Tendenzen registrierbar waren.»
Das Wachstum bringt laut Stocker immer grössere Probleme mit sich. «Es gibt zu wenig Bauflächen für Logistikfirmen. Wir haben einen Mangel an Bauland in der Schweiz, zumindest dort, wo die Nachfrage hoch ist. Und Logistiknutzungen sind bei vielen Gemeinden unbeliebt, weil sie eher wenige Arbeitsplätze und Steuereinnahmen generieren, dafür viel Verkehr.»
Uneinigkeit innerhalb der politischen Parteien
Seit etwas mehr als fünf Jahren versucht Lidl in Roggwil zu bauen. Es wäre das dritte Verteilzentrum in der Schweiz, das erste im Mittelland. Das Gebäude soll 640 Meter lang, 100 Meter breit und 20 Meter hoch werden. Damit das neue Zentrum entstehen kann, brauchte es jedoch eine Änderung im Zonenplan.
Am 31. August 2020 kam es zur denkwürdigsten Abstimmung in der Geschichte des 4300-Seelen-Dorfs. Das kündigte sich bereits im Vorfeld an. «Roggwil war gespalten», erzählt der heutige Gemeindepräsident Benjamin Kurt (SVP, 34). «Sogar in den Parteien selbst gab es zwei Lager.» Das Thema war derart heikel, dass sich damals kaum jemand traute, öffentlich Stellung zu nehmen.
Hitzige Debatte um Standort-Frage
Fredy Lindegger tat es trotzdem. Der Roggwiler war Mitinitiant einer Interessengemeinschaft. Mit Flugblättern weist er auf die Nachteile des Projekts hin. «Der Mehrverkehr ist ein gewaltiges Problem für die ganze Region», argumentiert der Grossrat. Die Rede war von 710 LKW-Fahrten pro Werktag. Zu Beginn wollte Lidl auf die Nutzung des Bahnanschlusses verzichten. Die Empörung bei den Gegnern führte zu einem Umdenken. Heute verspricht Lidl Anschluss ans Zugnetz und 20 Prozent weniger LKW-Verkehr.
Trotzdem: Roggwil ist mehr als zehn Kilometer vom nächsten Autobahnanschluss entfernt. «Das ist umwelttechnisch ein Blödsinn», sagt Lindegger.
Lidl hält dagegen. Auf einer extra für diesen Abstimmungskampf eingerichteten Website heisst es: «Das Areal eignet sich besonders gut, weil es über die nötige Fläche verfügt und seine Lage Verkehrsabläufe optimiert. Durch die Nähe zum Filialnetz im Mittelland könnten jährlich rund vier Millionen LKW-Kilometer eingespart werden.»
Zwei Durchgänge – keine Entscheidung
Für Lindegger hatte der Einsatz gegen den Lidl-Bau unangenehme Konsequenzen. «Es gab Leute, die sich von mir abgewendet haben. Gewisse Beziehungen sind abgekühlt.» Die Lidl-Befürworter sahen ihn als Feindbild. Sie argumentierten unter anderem mit den mehr als 200 neuen Arbeitsstellen.
Lindegger erlebte die denkwürdige Abstimmung am 31. August 2020 hautnah mit. Mehrere stimmberechtigte Personen wurden aus Platzgründen nach Hause geschickt. Letztlich zwängten sich 497 Menschen in die Turnhalle. Einige flüchteten aus dem Gebäude, weil der Corona-Abstand nicht eingehalten wurde. Nach der ersten Zählung war das Resultat derart knapp, dass die damalige Gemeindepräsidentin einen zweiten Durchgang anordnete. In diesem sprach sich eine hauchdünne Mehrheit gegen Lidl aus. 245 Personen stimmten Nein, 238 Ja.
In den darauffolgenden Tagen erhielt die Gemeinde über 20 Beschwerden. Die Abstimmung wurde wiederholt. Im Juni 2021 triumphierte Lidl an der Urne mit 1028 Ja- gegenüber 834 Nein-Stimmen. Trotzdem wartet das deutsche Unternehmen bis heute auf eine Baubewilligung.
Die drei möglichen Zukunftsszenarien
Nicht nur in Roggwil selber sorgt der Lidl-Bau für Diskussionen. Sechs Gemeinden aus der Region legten Einsprache ein. Drei aus dem Kanton Luzern (Reiden, Roggliswil, Pfaffnau) und drei aus dem Kanton Aargau (Rothrist, Murgenthal und Brittnau).
In einer gemeinsamen Eingabe forderten sie, dass das Lidl-Projekt überkantonal geregelt werden müsse, «weil das Vorhaben viel Schwerverkehr auslöst, der zu rund 75 Prozent über die Nachbarkantone Aargau und Luzern abgewickelt wird».
Auf Anfrage erklärt das Berner Amt für Gemeinden und Raumordnung, weshalb die Einsprachen abgelehnt wurden: «Das Lidl-Verteilzentrum liegt deutlich unter der 5000-Fahrten-Grenze pro Tag für die Aufnahme im kantonalen Richtplan.» Trotzdem hat dieser Fall zu einer Praxisanpassung geführt. «Zukünftig sollen Vorhaben mit den Kantonsnachbarn abgestimmt werden, auch wenn sie die Kriterien für die Aufnahme in den kantonalen Richtplan nicht voll erfüllen.»
Die Gemeinden zogen die Einsprache zur nächsten kantonalen Instanz weiter. Und bekamen dort recht! Aber nicht wegen des Mehrverkehrs. Die Direktion für Inneres und Justiz (DIJ) bemängelte, dass das Verteilzentrum zu nahe an den Brunnbach gebaut würde. Der vorerst letzte Akt im Lidl-Zoff erfolgte Anfang Jahr. Roggwil und Lidl haben den Entscheid der DIJ beim Verwaltungsgericht angefochten. Ein Urteil steht noch aus.
Was sind die möglichen Zukunftsszenarien? Gemeindepräsident Kurt klärt auf: «Wenn das Verwaltungsgericht den Entscheid von der DIJ bestätigt, müsste die ganze Planung wieder bei null beginnen. Möglich ist, dass sie eine geringfügige Anpassung im Zonenplan fordern. Dann müsste man nur den Gewässerabstand nachbessern. Oder sie revidieren den Entscheid, dann könnte Lidl mit dem Bau beginnen.» Sofern die Gemeinden das Verfahren nicht weiterziehen.
Angriff gegen Coop und die Migros
Das Verhalten der umliegenden Gemeinden erstaunt Landbesitzer Gasser. Der Mann aus Oberwil BL äussert eine brisante Vermutung. «Gut möglich, dass die Gemeinden instrumentalisiert wurden.» Von wem? «Den Transportunternehmen in der Region. Die würden Millionen von LKW-Kilometern verlieren.» Auch Coop und die Migros nimmt der Multimillionär ins Visier. «Die wollen der Konkurrenz das Leben so schwer wie möglich machen.» Migros und Coop weisen jegliche Anschuldigungen von sich. Auch die Gemeinden dementieren eine Beeinflussung von aussen vehement.
Ein Dorfpolitiker wird noch konkreter: «Die Einsprache von Rothrist ist das Allerletzte. Sie besitzen selber Flächen für Transport und Logistik. Da ging es nur darum, die Konkurrenz auszuschalten.» Auf Anfrage verweist Rothrist die Anschuldigungen ins Märchenland.
Gerüchte um Lidl-Frust
Der Glaube an den Lidl-Bau schwindet in der Bevölkerung von Roggwil. Ein Ende des Rechtsstreits ist nicht in Sicht. Zudem sorgt der Landbesitzer höchstpersönlich für Skepsis bei den Leuten. In diesem Sommer liess er die Kartbahn auf dem Gelände umbauen, inklusive neuer Elektrokarts. Alles zusammen dürfte locker über 100'000 Franken gekostet haben. Eine derartige Investition, obwohl der Abriss bevorsteht? Für viele ein Zeichen, dass Lidl die Geduld verloren hat und die Kartbahn länger bestehen bleibt.
Mehrere unabhängige Quellen berichten SonntagsBlick, dass sich der Grosskonzern im Raum Solothurn intensiv mit einer Ersatzlösung beschäftigt. Auf Anfrage erklärt Lidl: «Roggwil ist weiterhin ein fester Bestandteil unserer Logistikstrategie. Wir halten an einer Realisierung des Projekts nach Abschluss sämtlicher Bewilligungsverfahren fest.»
Stirbt das «Race Inn»?
Weshalb also die Karthalle umbauen, wenn sie bald Geschichte ist? «In der Schweiz und insbesondere im Kanton Bern geht alles derart lang, dass die Kart-Fans hier noch ein paar Jahre fahren können», glaubt Gasser. Während er diesen Satz sagt, steht er in der Karthalle und schaut zur Decke hoch. Mit kritischem Blick meint er: «Das nächste Projekt ist die Beleuchtung.» Er strebt nach Perfektion: «Ich will immer und überall an der Spitze sein.»
Die Investition in die Karthalle ist für ihn risikolos. Auch wenn das Gebäude in ein paar Monaten abgerissen würde. «Das Geld kommt von meinem Bankkonto – ohne Kredit!» Wird der Lidl-Bau Realität, dürfte die Motorsporthalle an einem anderen Ort weiterleben. «Das ist eine Herzensangelegenheit.»
Mehrere Ideen schwirren ihm bereits im Kopf herum. Eine davon wäre nur wenige Meter vom jetzigen Standort entfernt. «In der nächsten Zeit werde ich einige Gespräche führen», meint der Unternehmer schmunzelnd.
Der Streit in Roggwil ist mehr als eine Dorfposse. Er zeigt, wie in einer Region, in denen sich Gemeinden einst um die Ansiedelung von Lagerhäusern balgten, zunehmend Überdruss herrscht und sich die Bevölkerung die Frage stellt, wer wirklich von dem Logistik-Boom profitiert.
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