Inzestüberlebende Iris Galey
Eine «normale» Mutter konnte sie nie sein

Iris Galey lebte jahrelang in Todesangst. Ihr Vater missbrauchte sie in ihrer Kindheit. Das hat Auswirkungen bis heute. Trotzdem ist sie dankbar für ihr Leben – und fühlt plötzlich etwas ganz Neues.
Publiziert: 11:49 Uhr
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Aktualisiert: 14:08 Uhr
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Iris Galey mit ihrem Mann Peter Gubler zu Hause in Birsfelden – ein spätes Liebesglück.
Foto: Stefan Bohrer

Darum gehts

  • Iris Galey erzählt ihre Geschichte erneut, um anderen Mut zu machen
  • Galey durchbrach das Tabu des Vater-Tochter-Inzests mit ihrem Buch
  • Mit 89 Jahren kämpft sie immer noch mit den Folgen des Missbrauchs
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Karen SchärerTeamlead Gesellschaft

Ihre Geschichte hat Iris Galey (89) über die Jahre immer wieder öffentlich erzählt. Und doch hat sie das Bedürfnis, es nochmals zu tun. Sie wolle denen Mut machen, die auch eine schlimme Kindheit und Jugend erleben, sagt die 89-Jährige, als sie auf die Redaktion anruft.

Die Kollegin, die den Anruf entgegennimmt, stutzt. Iris Galey, das ist doch …? Ist es. «Ich weinte nicht, als Vater starb», hiess ihr Buch, mit dem sie 1986 im Alter von 50 Jahren als eine der ersten öffentlich über Vater-Tochter-Inzest sprach. Dieses und weitere Bücher wurden zu internationalen Bestsellern, und die Baslerin erlangte mit ihrem weltweiten Einsatz für Opfer von sexuellem, emotionalem und religiösem Missbrauch Bekanntheit. Auch der Dalai Lama und Papst Franziskus nahmen sich Zeit für ein Treffen. 

Begegnung mit Papst Franziskus im September 2022. Im Vorjahr war ihr Buch «Lieber Papa Franziskus, warum? Briefe an den Papst» erschienen.
Foto: zVg / Stefan Bohrer

Nacht für Nacht missbraucht

Iris Galey empfängt uns zu Hause in Birsfelden BL, auf dem nahen Sportplatz fährt der Platzwart auf dem Rasenmäher Runden, in der Ferne sieht man die beiden weissen Roche-Türme in Basel. Hier wohnt Galey – «verliebt wie am ersten Tag» – mit ihrem dritten Mann Peter Gubler, einem pensionierten Lokomotivführer, den sie mit 76 heiratete. Sie bietet Schwarztee mit Milch und Zucker an, hat einen Kuchen parat. 

Beim Erzählen schildert Iris Galey Szenen aus ihrer Kindheit und Jugend im Detail.
Foto: Stefan Bohrer

Ein ganzes Dreivierteljahrhundert ist es her, dass sich ihr Vater erschoss, nachdem Iris Galey im Alter von 14 Jahren ihr Schweigen gebrochen hatte. Der Vater war in leitender Position für einen Schweizer Chemiekonzern in England tätig. Während der Kriegsjahre lebten die Mutter und die kleine Tochter Iris in der Schweiz. Nach dem Krieg kam Iris Galey als Neunjährige zurück nach Yorkshire in Nordengland.

Erst nach fünf Jahren sprach sie aus, dass der Vater sie jede Nacht in sein Bett im Estrich zwang. Dass er sie missbrauchte, vergewaltigte, dass sie sein Sperma schlucken musste. Dass er ihr mit dem Tod drohte.

Nach dem Suizid des Vaters schickte die Mutter Tochter Iris nach Gstaad BE in ein Internat.
Foto: Zvg

Über die Jahre ist viel Wasser den Rhein hinabgeflossen, doch den Schaden, den der Vater angerichtet hatte, hat die Zeit nicht gelindert. Das zeigt sich besonders in ihren eigenen Beziehungen: Ihre Töchter haben den Kontakt zu ihr abgebrochen. In ihrem ersten Buch bezeichnet sie sich selbst als Gefühlskrüppel. Unter ihrer Vergangenheit und deren Folgen leiden auch Angehörige. «Die Ungerechtigkeit ist tragisch», sagt Iris Galey. Als Kind sei sie unschuldig zum Opfer geworden, als Erwachsene gebe man ihr nun die Schuld, dass Beziehungen scheitern. 

Ihr erster Mann nahm ihr die Tochter weg

Ihr erster Mann, den sie mit 20 heiratete, verprügelte sie. Die Tochter wurde nach der Scheidung bei einer Verwandten von ihm platziert; Iris Galey durfte nur jedes dritte Wochenende mit ihr verbringen. Mit ihrem zweiten Mann und der gemeinsamen Tochter, die 15 Jahre nach der ersten zur Welt kam, wanderte sie nach Neuseeland aus. «Die eigenen Töchter wünschen sich natürlich eine normale Mutter», sagt Galey. «Stattdessen bekamen sie eine Mutter, in deren Erwachsenenkörper das missbrauchte Kind feststeckt. Es ist, als ob die Zeit stehen geblieben ist.» Sie beschreibt sich selbst als kindlich, als enorm liebesbedürftig, mit starkem Geltungsdrang. 

Welterfolg mit ihrer Geschichte

Iris Galey schrieb zum Bestseller «Ich weinte nicht, als Vater starb» eine Fortsetzung, die als Doppelband verkauft wird.

Iris Galey, «Ich weinte nicht, als Vater starb … und hasste Sex, bis ich Liebe fand», MVG, 1980.

Iris Galey schrieb zum Bestseller «Ich weinte nicht, als Vater starb» eine Fortsetzung, die als Doppelband verkauft wird.

Iris Galey, «Ich weinte nicht, als Vater starb … und hasste Sex, bis ich Liebe fand», MVG, 1980.

Die Muster aus ihrer Kindheit sind noch präsent: Um der Mutter zu gefallen, der sie immer eine Last war und die sie mit Ausnahme der England-Jahre in Heime und Internate abschob, passte sie sich stets an, war immer gehorsam, bemüht um Anerkennung und Lob. Die Beziehung mit der Mutter war das Leben lang belastet, nach der Buchpublikation kam es zum Bruch. Der Bruch mit ihren eigenen Töchtern schmerzt Iris Galey: «Ich wünsche mir sehr, dass es vor meinem Tod gut kommt mit meinen Töchtern.»

Das Alter mache sich seit ihrem 89. Geburtstag vor ein paar Wochen mit Gedächtnislücken bemerkbar, erzählt Galey auf ihrem windgeschützten Balkon. Manchmal blitzt eine Erinnerung mit voller Kraft auf. «Jesses!», entfährt es ihr, als sie das Bild vor sich sieht, wie sie Abend für Abend mit ihrem Vater und den Hunden unterwegs war. Ihre Hand musste sie in seine Manteltasche stecken, die gegen innen offen war. Sie spazierte mit seinem Penis in der Hand. 

Als Kind spaltete sie diese Erfahrungen total ab. Tagsüber fröhlich, wenn auch isoliert – der Vater erlaubte ihr keine Kontakte. Nachts dem grausamen Vater ausgeliefert, der «Grusiges» von ihr verlangte, dem Vater, der als Berufsmann allseits geachtet war. 

Mit über 60 machte Galey eine mehrjährige Ausbildung zur Traumatherapeutin.
Foto: Stefan Bohrer

Die Kindheits- und Jugenderlebnisse arbeitete sie Jahrzehnte später auf, liess sich selbst zur Traumatherapeutin ausbilden. Überwinden konnte sie das Erlebte nicht. Ein paar Tage nach dem Gespräch auf ihrem Balkon meldet sie sich euphorisch. «Es ist ein Wunder geschehen!», schreibt sie in den Betreff eines E-Mails. Sie fühle sich plötzlich total befreit, atme ganz anders, habe kein drückendes Gewicht mehr auf der Brust. 

Mut wollte sie anderen Betroffenen aber ohnehin zusprechen. Iris Galey rät, zu kämpfen und zu schauen, was man anderen positiv weitergeben könne. So wie sie selbst, mit ihren Büchern und Vorträgen, ihrem therapeutischen Wirken. «Es war eine ganz tolle Reise», sagt sie, und es klingt wie ein Schlusswort.

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