Sich auf einer Zugfahrt begegnen und verlieben: «Ich habe immer ein bisschen die Hoffnung, dass das passieren könnte. Das stelle ich mir total romantisch vor», sagt Joana (27). «Bloss traut man sich in der Regel nicht, einander anzusprechen.» Eine Romanze im Zug, das ist nicht nur für die Kindergärtnerin eine schöne Vorstellung. Sie steht mit 280 anderen Singles an diesem Freitagabend am Gleis 4 am Hauptbahnhof Zürich Schlange. Genauer gesagt gibt es zwei Schlangen, eine für Frauen und eine für Männer. Sie alle steigen in den ersten SBB-Liebes-Express der Schweiz ein.
Während andere Reisende im üblichen Tempo vorbeihasten, scheint Perron 4 wie in Zeitlupe getaucht. Man meint, die Hormone rauschen zu hören: Verstohlene Blicke wandern von der Reihe der Männer zu den Frauen rüber und umgekehrt. Es wird gekichert. Ein junger Mann versucht aufgeregt, noch ein Ticket zu ergattern. Ein anderer hat bereits ein paar Zettel mit seiner Handynummer parat, um sie an passende Frauen zu verteilen. Joana steht mit ihrer besten Freundin Sonya (29) an. «Sie hat mich davon überzeugt, das auszuprobieren. Aber wir sind in separaten Wagen untergebracht», sagt Joana und lacht dabei. Unbekümmert steigt sie in Wagen Nummer 1 ein – bereit, den Mann ihres Lebens anzutreffen: «Das klingt kitschig, und das muss nicht hier passieren, aber es ist eine Chance auf echte Begegnungen.»
Sehnsucht nach Verbindlichkeit
Echte Gespräche statt ewiges Chatten, das ist die Idee des Schweizer Start-ups Noii. Vor zwei Jahren ist Gründerin Laura Matter (24) mit Video-Dating durchgestartet. Zielgruppe sind Menschen mit Durchschnittsalter 30: «Es ist die Zeit, bei denen es für viele ernst wird mit einer Beziehung, man denkt ans Zusammenziehen und vielleicht auch mehr. Es geht vielleicht noch nicht gerade um einen Ehering, aber doch um Verbindlichkeit», sagt Laura Matter. Eine Generation, die im digitalen Zeitalter gross geworden ist – über die Hälfte der Beziehungen beginnen heutzutage virtuell – und die sich aber nach realen Begegnungen sehnt. Mit Offline-Events für Singles trifft Noii damit den Nerv der Zeit, sei es in Party-Atmosphäre, beim Töpfern oder gemeinsamen Sport.
Der Single-Zug ist dank der SBB zustande gekommen; sie sind auf das junge Unternehmen zugegangen, um die Railaway-Festival-Sommer unter dem Motto «Find Your Festival-Date» zu promoten. Insgesamt sind sieben Wagen nach Rotkreuz ZG unterwegs, in vier davon gehts zum Speeddating, in zwei Waggons animiert Moderatorin Gülsha (38) die Teilnehmenden mit Dating-Spielen. Und auch der VIP-Wagen rollt mit: Wo sonst Bundesräte und andere wichtige Persönlichkeiten in violettem Plüsch und schwarzem Polster reisen, sorgt der Musiker Nickless (28) für Unterhaltung.
Online wird gemogelt
Für die Teilnehmenden ist der Event eine willkommene Alternative zum Online-Dating. Viele haben davon genug. Kim (25) hat es gerade mal zwei Wochen auf Bumble ausgehalten. Bei der emanzipierten Version der weltweit grössten App Tinder machen die Frauen den ersten Schritt. «Ich habe keine Lust auf Online-Dating», sagt die angehende Jurastudentin. «Mir fehlt der menschliche Kontakt und Austausch.» Ausserdem werde gemogelt, mit bearbeiteten Bildern, der Grösse, Alter oder Beruf. «Wenn das schon so anfängt, finde ich es echt schwierig.» Bei Hobbys und Arbeit, sagt sie, sei sie ihrem «Mr. Right» einfach noch nicht begegnet.
Wovon Kim erzählt, beschäftigt insbesondere jüngere Menschen. Viele von ihnen wissen gar nicht, wie man jemanden kennengelernt hat, bevor es Tinder, Bumble und Co. gegeben hat. Dafür kennen sie sich mit den Enttäuschungen des digitalen Flirtens aus: falsche Profile, Ghosting, also Menschen, die sich ohne Abschied nie wieder melden, oder gar Belästigungen.
Eine Häufung von Enttäuschungen führt zur Erschöpfung. Manche legen eine Pause ein oder lassen es ganz. Zahlen geben die Dating-Giganten keine heraus; aktuell gibt es eine Studie aus den USA, die den Abgang der Jugend belegt: 79 Prozent der Studierenden in den USA geben laut einer Umfrage des Axios Generation Lab an, keine Dating-Apps mehr zu benutzen. Jeder Siebte klagt über ein Dating-App-Burnout. Eine weitere Untersuchung aus den USA des Sozialforschungsinstituts Pew Research Center zeigt, dass fast die Hälfte der Nutzerinnen und Nutzer negative Erfahrungen mit Dating-Apps macht.
Wer zu viel swipt, verpasst das echte Leben
Es ist ein Paradox. Dank der digitalen Technologie war es noch nie so leicht, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Und zugleich schien es noch nie so schwierig, den passenden Partner zu finden. Ein Phänomen, das die Sozialpsychologin Johanna Degen (38), seit Beginn der Dating-Apps wie Tinder vor zwölf Jahren untersucht. Soeben ist ihre Zeitgeistanalyse «Swipe, like, love» als Buch erschienen. Fazit: Wer zu viel swipt, also sich durch Dating-Apps wischt, verpasst das echte Leben.
Degen sagt: «Online-Dating geht uns alle an. Denn es verändert die etablierten Gewohnheiten und damit das Beziehungsleben.» Inzwischen werde vieles toleriert, was zuvor tabu war. «Etwa, dass man parallel mit mehreren Leuten datet. Die Unverbindlichkeit hat zugenommen, und auch der Umgangston ist gröber geworden.» Die Apps vermitteln die Illusion, dass eine grenzenlose Auswahl an möglichen Partnerinnen und Partnern zur Verfügung steht. Egal ob Single oder Beziehungskrise: «Wer sich einsam fühlt, kann auf der Toilette sitzen und sich durch neue Möglichkeiten wischen. Aber glücklich macht das auf Dauer nicht, im Gegenteil. Was anfangs noch aufregend ist, wird schnell als ermüdend, frustrierend und leer beschrieben», sagt Degen.
Denn eigentlich suchen alle das Gleiche: «Es geht um das Verlangen, etwas zu empfinden, sich berührt und wahrgenommen zu fühlen. Niemand datet online, um abgewertet zu werden.» Falsch sei Online-Dating nicht: «Es ist ein etablierter Weg, um sich kennenzulernen. Wichtig ist, dabei seine Persönlichkeit zu zeigen und auch mal ein emotionales Risiko einzugehen, statt sich hinter einem Stereotypen zu verstecken.»
Als Mann schnell aussortiert
Dass Tinder nicht mehr ganz so aufregend ist wie in seinen Anfängen, erzählt Marius (40). Auch er sitzt im Dating-Zug. «Ich war oft geschäftlich in London, als Tinder aufgekommen ist, das war vor über zehn Jahren. Damals gehörte ich in der Schweiz sicher zu den Ersten, die das genutzt haben.» Inzwischen hat die App für ihn den Reiz verloren. «Wenn man ernsthaft jemanden kennenlernen will, ist das einfach zu oberflächlich», sagt er. «Und als Mann wird man sehr schnell aussortiert, ein falsches Wort – und wisch, und weg ist man.» Zudem seien da all die vielen Matches, auf die dann nie jemand reagiert. Nachdem sich Marius von einem emotionalen On-off-Verhältnis gelöst hat, reicht es ihm mit halbgaren Geschichten, und er möchte sich 100 Prozent verlieben – gegenseitig.
Er hat sich im Zug und auch bei der anschliessenden Party im Zürcher Club Soho amüsiert: «Ich habe mich gut unterhalten und getanzt. Und mit einer Frau hatte ich beim Speeddating einen Match, da wird sicher ein Treffen zustande kommen.» In diesem Zug haben auch all jene die Chance auf eine Begegnung, die sonst nicht die Gelegenheit haben. Auch wer schüchtern ist, bekommt ein Gegenüber zum Austausch. Die Moderatorinnen des Events achten darauf, dass sich die Teilnehmenden immer wieder mischen – auch zehn Queere sind dabei.
Schau mir in die Augen
Auch Expats wie Vadim (36) nehmen beim Zug-Dating teil. Der IT-Spezialist stammt ursprünglich aus Moldawien und kennt hierzulande noch nicht so viele Leute. Der Takt beim Speeddating war für ihn fast zu schnell, um eine Frau wirklich kennenzulernen. Dafür hatte er im zweiten Teil der Zugfahrt im Chillout-Bereich eine wundervolle Begegnung: «Während einem Spiel haben wir uns in die Augen geschaut und konnten nicht mehr aufhören. Wir haben uns angelächelt, und das war ein so echter Moment.» Mehr sei daraus nicht geworden, weil sie zehn Jahre jünger sei. «Alles in allem hat es sich gelohnt, den SBB-Liebes-Express zu nehmen», sagt er und lacht.
Nachdem in Rotkreuz einmal alle aus dem Zug gestiegen und die Wagen gewechselt haben, fahren die Singles wieder in Zürich ein und ziehen weiter zum Feiern im Club Soho. Für Kim hat sich die Fahrt ein bisschen wie im Klassenlager angefühlt: «Alle sind am Plaudern, Spielen und was Trinken. Es war so freundschaftlich und gar nicht verkrampft.» Sie ist mit zwei Männern im Austausch: «Ob etwas daraus wird, zeigt sich mit der Zeit.» Auch Joana strahlt, sie hat bereits ein Date mit einem Mann ausgemacht, der ihr später im Club begegnet ist. «Das fühlt sich an wie das echte Leben.»
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