Gemeinsam statt einsam
Lesen wird zum Happening

Die Präsenz audiovisueller Medien ist so gross, dass das Buch im Vergleich altbacken wirkt. Doch unsere Lesekultur lebt und ist innovativ: Vor allem das gemeinsame Lesen liegt im Trend.
Publiziert: 24.10.2023 um 00:56 Uhr
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An Literaturfestivals finden Literatur und Kunst zusammen.
Foto: Keystone
Nataša Mitrović

Lesen ist ein stilles Hobby. Es braucht nicht viel dafür – ein bequemes Plätzchen, Ruhe und natürlich spannenden Lesestoff. Im stillen Kämmerlein in einem Buch versinken? Das passt nicht für alle. Lesen wird immer mehr zu einem sozialen Ereignis, einem gesellschaftlichen Event – und Bücherschätze zur wertvollen Tauschware.

Auch wenn die Nachfrage nach E-Books steigt, gehören Bücher noch lange nicht ausrangiert. Besonders nicht bei einer bestimmten Altersgruppe. Tanja Messerli (53), Geschäftsführerin des Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verbands SBVV verweist auf die Erhebung des Buchkonsums der ersten Jahreshälfte 2023 in Deutschland, die oft auf die Deutschschweiz übertragbar sei. «Die über 70-Jährigen wurden von 10- bis 19-Jährigen als grösste Kundengruppe verdrängt. Diese machen mittlerweile über 20 Prozent der gesamten Käuferschaft aus.» Ein eindeutiger Trend in allen Altersgruppen zeige sich ausserdem bei der Nachfrage von Comics, Graphic Novels und Mangas.

Lesestoff in haptischer Form gehört noch lange nicht der Vergangenheit an, und auch das Lesen wird auf verschiedene Arten zelebriert. Vier Beispiele, die zeigen, dass Lesen zum Happening wird. 

Silent Reading Rave

Silent Reading Rave: Safe Space für Menschen, die gern lesen.
Foto: Marcel Henry

Unter dem Motto «Gemeinsames einsames Lesen» organisieren Fabian Weingartner (31) und Lara Derzi (33) seit fast vier Jahren die Silent Reading Raves. «Das Projekt entstand aus dem Wunsch, selbst mehr zu lesen», sagt Weingartner. Im Alltag sei man schnell abgelenkt und habe vielleicht auch nicht genug Ausdauer, um Bücher zu lesen. Dem wirken die Raves entgegen. Die Motivation fürs Lesen steigt, wenn man es gemeinsam tut. Lara Derzi sagt: «Es entsteht eine Verbindung zwischen den Menschen, die an unseren Raves teilnehmen – ganz ohne Worte, denn wir zelebrieren im Stillen gemeinsam das Lesen.» Pro Rave kämen 20 bis 40 Lesebegeisterte zusammen. Während zwei bis vier Stunden liest die stets wechselnde Gruppe an besonderen Orten – im Park, Café oder Museum. Vom nächsten kostenlosen Rave erfahren die über 2000 Follower jeweils via Instagram

Offene Bücherschränke

Offener Bücherschrank in Solothurn.
Foto: Keystone

Seit 2011 stehen sie an öffentlichen Plätzen oder in Parks und erfreuen lesebegeisterte Menschen. Offene Bücherschränke sind ein innovatives und nachhaltiges Projekt. Gratis und unkompliziert können die gelesenen und nicht mehr gebrauchten Bücher in die umfunktionierten Telefonkabinen oder Kühlschränke, spartanisch zusammengeschusterten Holzschränkchen oder massiven Stahlkonstruktionen (etwa in Solothurn), gelegt werden. So landet wertvoller Lesestoff nicht im Altpapier, sondern erfreut einen anderen Bücherwurm. In der Schweiz stehen Hunderte offene Bücherschränke und machen so Literatur für alle Gesellschaftsschichten zugänglich.

Buchhandlung und mehr

Mehr als nur eine Buchhandlung: die «Leserei» in Zofingen AG.
Foto: STEFAN BOHRER

Immer mehr Buchhandlungen werden zu Veranstaltungsorten für kulturelle Anlässe. Dabei geht es schon lange nicht mehr nur um Buchvernissagen und Lesungen, sondern vermehrt auch um Podiumsdiskussionen und Vorträge zu gesellschaftlichen Themen. Horizonterweiternde und inspirierende Events gibts unter anderem in den Buchhandlungen «Paranoia City» und «Sphères» in Zürich. In der Buchhandlung «Bücher Ganzoni» in Basel tauschen sich Lesebegeisterte regelmässig an gemütlichen Literaturapéros aus. Und in der liebevoll eingerichteten «Leserei» in Zofingen AG teilten schon Politikerinnen, Aktivisten und Philosophinnen ihre Gedanken mit Lesefreundinnen und -freunden. Das Beste an diesen Veranstaltungen: Ist das Interesse für ein Thema geweckt, ist der Weg zur passenden Literatur nicht mehr weit.

Literaturfestivals

An Literaturfestivals vermischen sich Kunst und Literatur.
Foto: Keystone

Seit einigen Jahren werden in verschiedenen Schweizer Städten über mehrere Tage Veranstaltungen im literarischen Rahmen organisiert, wie jeweils im April das «Lettera» in Luzern und die «Solothurner Literaturtage» im Mai. Diese Woche findet das «Zürich liest»-Festival statt (25. bis 29. Oktober), das in Zürich, Winterthur und Region über 100 Veranstaltungen bietet. Martin Walker (58) von der Festivalleitung sagt: «Wir arbeiten mit dem Literaturhaus, verschiedenen Buchhandlungen, Verlagen und Theatern zusammen. Daraus entsteht eine grosse inhaltliche Bandbreite.» Gesellschaftsrelevante und aktuelle Themen werden hier in unterhaltsamem, künstlerisch-literarischem Kontext vorgestellt und diskutiert. Für die jungen Leserinnen und Leser gibt es ein grosses Kinderprogramm.

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