Foto: Getty Images

«Fürchtet euch nicht!» – drei kluge Köpfe über den Rat des Engels
Mutmachtexte zu Weihnachten

Es ist der schönste Satz im Weihnachtsevangelium: Der Verkündigungsengel fordert die Hirten auf, sich nicht zu fürchten. Was bedeutet uns der Ruf heute? Schriftsteller Adolf Muschg, Philosoph Yves Bossart und Pfarrerin Sibylle Forrer sagen es uns.
Publiziert: 24.12.2024 um 13:15 Uhr
|
Aktualisiert: 24.12.2024 um 13:25 Uhr

Auf einen Blick

  • Von der Weihnachtsgeschichte können wir in diesen düsteren Zeiten viel lernen
  • Pfarrerin Sibylle Forrer sieht in ihr die Botschaft, zur eigenen Verletzlichkeit zu stehen
  • SRF-Moderator Yves Bossart nimmt sie zum Anlass, um über seine Angst zu sprechen
  • Schriftsteller Adolf Muschg inspiriert sie, für eine Pause vor der Furcht zu raten
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
RMS_Portrait_703.JPG
Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft / Magazin

Die Geburt von Jesus ist furchterregend. Maria erschrickt, weil sie plötzlich Muttergottes werden soll. Josefs Schreck ist so gross, dass seine Angst ihn bis in seine Träume verfolgt. Und die Hirten auf den Feldern Bethlehems erschrecken, als der Verkündigungsengel zu ihnen kommt. Dabei hat er doch eine frohe Botschaft im Gepäck: die Geburt des Heilands. Und er sagt: «Fürchtet euch nicht!» – der schönste Satz der Bibel. Uralte Worte sind das, die es durch die Jahrtausende hindurch geschafft haben, bis zu uns.

«Fürchtet euch nicht!» Die vielleicht wichtigste Ansage in diesen Zeiten mit Krieg, Klimawandel und Krisen. Was können uns die biblischen Worte heute sagen? Die reformierte Pfarrerin Sibylle Forrer, der Philosoph und SRF-Moderator Yves Bossart und der Schriftsteller Adolf Muschg haben sich in ihren Essays Gedanken dazu gemacht.

Sibylle Forrer ist reformierte Pfarrerin in Kilchberg ZH.
Foto: Stefan Bohrer

Das Heil der Welt liegt in Windeln gewickelt

«Ich verkünde euch eine grosse Freude.» Die Hirtinnen und Hirten auf dem Feld sind die Ersten, die von Weihnachten erfahren. Eine unerwartete Klarheit umgibt sie. Sie bekommen die Kunde, dass etwas Grosses geschehen ist, und machen sich auf, es mit eigenen Augen zu sehen. Sie finden, was ihnen gesagt wurde, ein neugeborenes Kind, das in einem Stall in einer Futterkrippe liegt, und überbringen den Eltern die freudige Nachricht: Das Kind in der Krippe ist das Heil der Welt.

Das Heil der Welt liegt in Windeln gewickelt. Mit dem Kind in der Krippe bekommt die Verletzlichkeit von uns Menschen ein Gesicht. Die improvisierte Gruppe, die im Stall von Bethlehem an der Krippe zusammenkommt, wird zum Sinnbild dafür, dass Menschsein nur in Gemeinschaft möglich ist – zum Preis der Angewiesenheit aufeinander.

In der Weihnachtsgeschichte wird Verletzlichkeit zur Stärke und die Sorge füreinander zum Heilsgeschehen. Die Geschichte hat in ihrer Radikalität, mit der sie mit geltenden Konventionen bricht und überkommene Machtverhältnisse infrage stellt, etwas Erschreckendes. Die Engel müssen den Hirtinnen und Hirten auf dem Feld erst einmal die Angst nehmen: «Fürchtet euch nicht!»

Die eigene Verletzlichkeit anzunehmen, braucht zuweilen Mut. Sie kann bedrohlich sein, wenn ihr mit Gleichgültigkeit begegnet wird. Damit wir uns vor der Verletzlichkeit nicht fürchten müssen, ist ein einfühlsames Miteinander nötig. Das Anerkennen der eigenen Verwundbarkeit schärft das Bewusstsein für die Verletzlichkeit der anderen und die damit verbundene Verantwortung. Tragfähige Beziehungen entstehen nur dann, wenn wir bereit sind, Verletzlichkeit zuzulassen. Wer sich berühren lässt, wer anderen vertraut, macht sich verwundbar.

«Fürchtet euch nicht», dieser Zuspruch ist nicht naiv. Er ist das grosse «Trotzdem» angesichts all dessen, was Angst macht. Der Zuspruch befreit nicht von Angst, aber er widerspricht der Resignation. «Fürchtet euch nicht», heisst: Schärft euren Sinn für das, was möglich ist. Glaubt daran, dass es anders werden kann. Ein heilsames Miteinander ist keine Illusion, es ist die Grundlage unseres Lebens. Damit es Lebenswirklichkeit für alle wird, braucht es die Bereitschaft, dort hinzusehen, wo das Leben besonders verletzlich ist. Es braucht Zeichen und Orte der Mitmenschlichkeit und die Voraussetzungen dafür, dass Menschen einander Sorge tragen können.

«Fürchtet euch nicht!», hören die Frauen drei Jahrzehnte nach der Geburt des Kindes. Sie stehen im leeren Grab. Damit verbunden ist die Erfahrung, dass lebendig bleibt, was an Weihnachten geboren wurde; die Wahrheit, dass die Sorge füreinander das Leben heil macht. Wo immer wir als verletzliche Menschen füreinander da sind, erfahren wir, weshalb der Engel sagt: «Fürchtet euch nicht! Ich verkünde euch eine grosse Freude.»

Sibylle Forrer

Sibylle Forrer (44) ist reformierte Pfarrerin in Kilchberg ZH und Mitglied der Kirchensynode im Kanton Zürich. Von 2014 bis 2016 war sie Sprecherin bei der SRF-Sendung «Das Wort zum Sonntag».

Sibylle Forrer (44) ist reformierte Pfarrerin in Kilchberg ZH und Mitglied der Kirchensynode im Kanton Zürich. Von 2014 bis 2016 war sie Sprecherin bei der SRF-Sendung «Das Wort zum Sonntag».

Philosoph Yves Bossart arbeitet für SRF.
Foto: Stefan Bohrer

Wer handelt, hat keine Angst

«Du musst keine Angst haben. Alles kommt gut. Und wenn nicht: Wir sind immer für dich da. Du bist nicht allein.» Wie oft habe ich diese Sätze schon gesagt. Zu meinen beiden Töchtern. Vor schwierigen Situationen, vor Prüfungen, vor Unbekanntem. Aber wir alle wissen, wie schwierig es sein kann, aus der Angst wieder rauszukommen. Ich selbst habe Mitte zwanzig mehrere Panikattacken erlebt. Eigentlich müsste ich sagen «überlebt», denn es fühlte sich an wie die Hölle. Eine Stunde wie eine Ewigkeit. Ich war ganz Angst. Getrennt von der Welt und von meinen Liebsten. Ich hatte Angst, verrückt zu werden und alles zu verlieren: meinen Job, mein Leben, mein Ich. 

Heute weiss ich: Die Angst war nur in meinem Kopf. Genauer: Sie war in meinem Körper. Denn: Ein unruhiger Geist wohnt in einem unruhigen Körper. Angst lässt sich wegatmen, wegmeditieren, wegwandern. Aber ich weiss auch: Manche Ängste sind gute Ängste. Sie zeigen uns Gefahren und Abgründe. Und Ängste halten uns den Spiegel vor. Sie zeigen uns, was uns wichtig und wertvoll ist, auch wenn das oft eitle Dinge sind, wie Erfolg, Ansehen, Aussehen oder Geld. 

Wer die Angst verlieren will, muss loslassen können. Im Wort «Gelassenheit» steckt nicht zufällig das Wort «lassen». Viele Weisheitstraditionen haben uns gelehrt, wie wir mit wenig zufrieden sein können und dass Verzicht eine Befreiung sein kann. Wichtig ist, dass wir uns von etwas getragen fühlen – sei das Gott, die Natur, das Gute oder unsere Liebsten. Dann verschwinden auch die Ängste, denn die meisten unserer Ängste sind Verlustängste. Wir haben Angst, unseren Wohlstand zu verlieren, die vertraute Heimat, unsere Sicherheit, unsere Freiheiten oder gar unsere Hoffnung. 

Diese Hoffnung auf eine bessere Zukunft ist seit einigen Jahren tatsächlich am Verschwinden, was es umso schwieriger macht, kleinere Verluste und Rückschläge zu verkraften. Der Fortschrittsglaube der Moderne ist infrage gestellt. Da ist der Klimawandel, das Artensterben, die Kriege vor unserer Haustür, die Schwächung der Demokratien, die zunehmende Migration, die Gefahren der künstlichen Intelligenz.

Gibt es unter diesen Umständen überhaupt noch Grund zur Hoffnung? Ich meine: Ja. Wir dürfen vor lauter Krisenmeldungen nicht vergessen: Der Menschheit geht es heute so gut wie noch nie. Medizin, Technologie und Moral haben ungeheure Fortschritte erzielt. Dieser Wohlstandszuwachs hatte eine dunkle Kehrseite, die wir nicht länger ausblenden können: die Ausbeutung von Mensch und Natur. Die Herausforderung der Gegenwart ist es darum, eine wirklich nachhaltige und gerechte Form des Lebens und Wirtschaftens zu finden, und zwar auf globaler Ebene. Klingt nach viel. Aber wir alle können unseren Beitrag leisten. Mag der noch so klein sein. 

Wichtig ist, dass wir ins Handeln kommen. Denn wer handelt, hat keine Angst. Handeln schafft Hoffnung, nicht umgekehrt. Sobald wir anfangen, verschwinden unsere Ohnmachtsgefühle. Und am besten handeln wir gemeinsam mit anderen. Dann nämlich spüren wir: Wir müssen keine Angst haben. Wir sind nicht allein. Egal, was kommt.

Yves Bossart

Yves Bossart (41) ist promovierter Philosoph und lebt mit seiner Familie in Zürich. Er ist Moderator der TV-Sendung «Sternstunde Philosophie» auf SRF 1 und regelmässiger Gast der Radiotalkshow «Giiget's?» auf SRF 3.

Yves Bossart (41) ist promovierter Philosoph und lebt mit seiner Familie in Zürich. Er ist Moderator der TV-Sendung «Sternstunde Philosophie» auf SRF 1 und regelmässiger Gast der Radiotalkshow «Giiget's?» auf SRF 3.

Schriftsteller Adolf Muschg ist der Doyen der Schweizer Literatur.
Foto: Thomas Meier

Wenigstens ein Mal im Jahr keine Furcht

Dass wir ohne besonderen Anlass – Krankheit, Katastrophe, Krieg – den eigenen Tod nicht fürchten, ist ein normales Produkt der Verdrängung. Nicht jedem ist der Witz vom Griechen Epikur gegeben: Solange ich da bin, ist er es noch nicht, und wenn er da ist, bin ich es nicht mehr – warum soll ich den Tod fürchten? Heute, wo er in der Ukraine oder im Gazastreifen wieder wütet wie im dunkelsten Mittelalter, fürchtet man vor allem die atomare Nachrüstung der Sense. Aber dürfen wir fürchten, sie einzusetzen, wenn sie (nebenbei) dem Bösen Halt gebietet?

Und der Böse ist immer der Andere, so war es bisher in jedem Krieg: Das steinzeitliche Muster gälte auch für das Ende der Zivilisation, und nirgends könnte man weiter von der Verheissung des Engels entfernt sein: «Fürchtet euch nicht, denn ich verkündige euch eine grosse Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn siehe, euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend.» 

Darf sich also die geplagte Menschheit nicht ein Mal im Jahr Dispens von jederlei Furcht leisten und feiern: zu Weihnachten? Die Geschichte dazu steht in einem Buch, das nur die wenigsten auch noch lesen: der Bibel. Aber die Weihnachtsgeschichte, nach Lukas, hat die Heilige Schrift überlebt, da will man schenken und beschenkt werden, und es darf auch etwas kosten. Was Wunder, dass der Markt in die Lücke gesprungen ist und als Weihnachtsmarkt auch für die gewünschte Stimmung sorgt. Die Strassen schmücken sich mit Lichterketten, die Schaufenster mit Kostbarkeiten (wer klug ist, besorgt sie sich günstiger schon am Black Friday). Die Kirchen stellen ihre Krippenfiguren aus, zur Einstimmung auf den Heiligen Abend, an dem das Haus, unter dem brandsicheren Christbaum, wieder einmal voll ist. Was feiert man da?

Das Kind in der Krippe – und die Erinnerung an eine schöne Kindheit, umso mehr, wenn man sie nicht gehabt hat. Stille Nacht, heilige Nacht! Sie ist ein Traum, den wir umso mehr brauchen, je weniger wir ihn selbst erleben.

Von den drei «Fürchte dich nicht», die der Evangelist den Engel Gottes sprechen liess – an die Eltern des Täufers, an Maria und Josef, und an die Hirten auf dem Feld –, ist nur das letzte als Traum zu feiern. Denn von den verheissenen Kindern wurde, als sie erwachsen waren, das erste geköpft, das andere ans Kreuz geschlagen. Nur zu sehr gleicht ihr Ende den Nachrichten, die uns jeden Tag durch die Medien erreichen. Doch würde ein verurteilter Unruhestifter in Galiläa (circa 30) heute gar verbreiten, er werde für uns sterben, so dürften alle Verantwortlichen der Welt diesen Anspruch weit von sich weisen. Auch unser Bundesrat.

Adolf Muschg

Adolf Muschg (90) ist der Doyen der Schweizer Literatur und lebt als Schriftsteller in Männedorf ZH. Für seine Romane wie «Der Rote Ritter» erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter den renommierten Georg-Büchner-Preis.

Adolf Muschg (90) ist der Doyen der Schweizer Literatur und lebt als Schriftsteller in Männedorf ZH. Für seine Romane wie «Der Rote Ritter» erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter den renommierten Georg-Büchner-Preis.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?