Forscher Jon Mathieu untersucht heilige Berge
«Das Religiöse der Gipfelkreuze interessiert wenige»

Bergforscher Jon Mathieu (70) untersucht, wie Gipfelkreuze in unsere Alpen gekommen sind, weshalb es immer mehr werden und der ständige Höhenvergleich typisch westlich ist. Wir waren mit ihm auf der Emmentaler Lueg.
Publiziert: 12.02.2023 um 10:56 Uhr
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Aktualisiert: 13.02.2023 um 11:49 Uhr
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Jon Mathieu ist emeritierter Geschichtsprofessor der Universität Luzern. In seinem neuen Buch «Mount Sacred» macht er sich auf eine historische Reise zu heiligen Bergen rund um die Welt.
Foto: Lea Ernst
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Lea ErnstRedaktorin Gesellschaft

Glitzernd weiss locken die Hügel des Napfgebiets, als das Postauto über Burgdorf BE in die Höhe kurvt. Wir fahren vorbei an riesigen Walmdächern der typischen Emmentaler Bauernhäuser. Am Horizont setzen die Alpen den unzähligen Hügeln, Eggen, Kreten und Chrächen ein schroffes Ende. Beim Restaurant steigen wir aus und laufen die letzten Meter hinauf zur Aussichtsplattform Lueg. Hin und wieder ragt eine Gipfelspitze durch die gleissenden Nebelschwaden. Der Ausblick ist gewaltig.

Letztens stand ich auf einer der höchsten Spitzen Dänemarks, übersetzt Himmelberg. Inklusive Bergrestaurant, Aussichtspunkt und Souvenirshop – auf 147 Meter Höhe. Das fand ich lustig.
Jon Mathieu: Ja, das ist eine typisch schweizerische beziehungsweise westliche Ansicht. Wir liefern uns ein Wettrennen, wer die höchsten Gipfel hat, es herrscht ein ständiger Vergleich. Dabei ist die Aussicht meist auch von kleineren Bergen aus schön, wie hier auf der Lueg. Sie können den Menschen der Region viel bedeuten.

Also kann man nicht sagen «Je höher, desto heiliger»?
Nein, so funktioniert das nicht. Sehen Sie hier, auf dieser Panoramakarte: Vielleicht 300 Gipfel sind darauf aufgezeichnet. Eiger, Mönch und Jungfrau werden nahezu religiös als alpine Dreifaltigkeit bezeichnet. Dabei wäre das Finsteraarhorn mit 4274 Metern deutlich höher, gar der höchste Gipfel der Berner Alpen.

Der Gipfelkreuzforscher

Jon Mathieu (70) ist emeritierter Geschichtsprofessor der Universität Luzern. Im Januar ist sein neues Buch «Mount Sacred – eine kurze Globalgeschichte der heiligen Berge seit 1500» im Böhlau-Verlag erschienen. Tibet, Nordkorea, Australien: In dem Buch macht sich Mathieu auf eine historische Reise zu heiligen Bergen rund um die Welt. Er stammt aus einer Bündner Familie, hat zahlreiche Bücher über die Geschichte der Alpen geschrieben und wohnt in Burgdorf BE. Mathieu ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

Jon Mathieu (70) ist emeritierter Geschichtsprofessor der Universität Luzern. Im Januar ist sein neues Buch «Mount Sacred – eine kurze Globalgeschichte der heiligen Berge seit 1500» im Böhlau-Verlag erschienen. Tibet, Nordkorea, Australien: In dem Buch macht sich Mathieu auf eine historische Reise zu heiligen Bergen rund um die Welt. Er stammt aus einer Bündner Familie, hat zahlreiche Bücher über die Geschichte der Alpen geschrieben und wohnt in Burgdorf BE. Mathieu ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

In Ihrem Buch sticht heraus: Das Christentum hat Berge erst viel später geheiligt als die anderen Religionen. Wieso?
Weil Naturelemente im Christentum lange nichts zu suchen hatten. Sie wurden als heidnisch verteufelt. Im Christentum geht die Heiligkeit von Gott und der Gemeinschaft aus. Also von den Gläubigen, die sich in der Kirche versammeln. Die Natur spielt da keine Rolle.

Stimmt es, dass Berge in der europäischen Geschichte gar ein schlechtes Image hatten, als negativ und furchterregend dargestellt wurden?
Ja und nein. Zwar hatten manche Menschen Angst vor steilen Bergen oder empfanden sie als hässlich. So denken einige Leute aber noch heute. Andere fanden bei Gelegenheit auch lobende Worte. In die religiöse Wahrnehmung waren sie allerdings nicht eingeschlossen.

Wann änderte sich das?
Ab dem 18. Jahrhundert, als Berge und Natur generell mehr Aufmerksamkeit erhielten. Wichtig waren die entstehende Naturwissenschaft und der beginnende Tourismus. Die Auseinandersetzung mit der Natur wurde bald auch extrem politisiert.

Inwiefern?
Der Paradefall ist die Französische Revolution. Das Volk kritisierte künstliche Hierarchien wie die Monarchie mit ihrem Hof und ihren Perücken. Es kam zu einem Kampf um den Naturbegriff – das Natürliche sollte als Vorbild für die Moral dienen. Das ging so weit, dass sich die radikale Opposition «Montagnards» nannte, zu Deutsch Bergler. Als Zeichen des Widerstands schütteten sie künstliche Berge auf – sogar in Kirchen. Das klingt für uns heute natürlich absurd.

Was geschah dann?
Die Provokation gipfelte im Blutbad der Guillotinen ab 1793. Die künstlichen Berge wurden als «Monumente des Terrors» eingestuft und verboten. Ein Abgeordneter sagte damals: «Ein Berg, ist das nicht die ewige Auflehnung gegen die Gleichheit?»

Wie sah die Lage in der Schweiz aus?
Auch hier rückte die Natur im 18. Jahrhundert immer mehr ins Zentrum. Als «Vater» der Naturforschung gilt Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733), ein Zürcher Stadtarzt. Obwohl er immer wieder betonte, dass er mit seiner Forschung Gott als Schöpfer der Natur preisen wolle, war er bei den Zürcher Pfarrern ganz unbeliebt. Seine Naturliebe war ihnen verdächtig, er wurde immer wieder zensiert. Um sein letztes grosses Werk zu publizieren, musste er viel diplomatisches Geschick aufbringen. Es heisst «Physica Sacra», geheiligte Naturwissenschaft – ein unglaubliches Buch! Heute kann man es frei im Internet anschauen.

Und doch schreiben Sie, dass heute im Alpenraum geschätzt 3000 bis 4000 Gipfelkreuze stehen.
Richtig. Sie wurden ab 1800 gesetzt. Die ersten Gipfelkreuze standen auf dem Klein- und dem Grossglockner in Österreich. Sie entstanden im Rahmen wissenschaftlicher Expeditionen. Der Expeditionsleiter war ein Fürstbischof und versah die Gipfel mit einem Kreuz. Aufklärung und Religion waren nicht zwingend ein Gegensatz.

Also waren die ersten Gipfelkreuze ein Nebenprodukt der Wissenschaft.
Ja, generell kann man auch sagen: Die Geschichte der Gipfelkreuze verlief parallel zur Popularität des Bergsteigens. So gab es im 19. Jahrhundert nur wenig neue Kreuze, erst im 20. Jahrhundert und besonders in den letzten Jahrzehnten nahm ihre Anzahl massiv zu.

In den letzten Jahrzehnten? Das überrascht mich. Wer stellt die Gipfelkreuze eigentlich auf?
Bis 1960 war es die Kirche. Sie stellte zum Beispiel als Projekt eines Jugendlagers ein Kreuz auf. Seither sind es private Vereine, Trachtenvereine oder Berglaufgruppen, die für ein Jubiläum ein Kreuz errichten. Auch wenn jemand in den Bergen abstürzt, kann es sein, dass die Hinterbliebenen für den verstorbenen Menschen ein Kreuz organisieren.

Also kann jede und jeder ein Gipfelkreuz setzen lassen?
Früher war das kaum geregelt, doch seit dem Raumplanungsgesetz entscheiden meistens die Gemeinden. In den katholischen Gemeinden ist meist nach wie vor der Pfarrer für die Einweihung involviert.

Doch stehen Gipfelkreuze längst nicht mehr nur in katholischen Kantonen.
Nein, sie haben auf protestantische Gegenden übergegriffen. Das ist für mich ein Zeichen dafür, dass man den religiösen Sinn der Gipfelkreuze vergessen hat.

Meinen Sie die Protestanten?
Ja. Sie haben vergessen, dass die Kreuzkritik ein wichtiger Punkt der Reformation war. Besonders in Zürich und Genf bemängelte man damals, dass Katholiken bloss das Kreuz anbeteten und nicht das, wofür es steht. Auch die Heiligen standen in der Kritik, wurden als äusserlich und oberflächlich bezeichnet. Das ging so weit, dass Kirchen als «Hurenhäuser» beschimpft wurden. Aber zurück zu den Gipfelkreuzen: Es kam immer wieder zu Vorfällen, bei denen sie zerstört wurden. Ein Bergführer aus dem Kanton Freiburg zerstörte gleich drei Kreuze. Er sagte, die Natur habe keine Religion, und er wolle die Macht der Kirche erschüttern. Es kam zum Gerichtsfall.

Auf welcher Seite stehen Sie?
Sagen wir es so: Ich kann nachvollziehen, dass man einem Gipfelkreuz kritisch gegenübersteht, wenn man in einem erzkatholischen Kanton wie Freiburg aufgewachsen ist. Dort herrschte nicht der liberale Katholizismus Solothurns oder Luzerns – sondern bis in die 1960er-Jahre «deep Catholicism», tiefer Katholizismus, der einem von klein auf eingebläut wurde.

Doch gibt es auch in anderen Kantonen zerstörte Kreuze.
Das fing in den 1920er-Jahren an, als es immer mehr junge, verwegene Alpinisten gab. Zu dieser Zeit entstanden in den Berggebieten immer mehr Bergbahnen, Restaurants und so weiter. Das führte zum Konflikt. Auch die Nazis zerstörten Gipfelkreuze, da auch sie gegen die Kirche und generell der Gewalt zugeneigt waren. In den letzten Jahrzehnten hat das Bergsteigen nochmals enorm an Popularität gewonnen. Gleichzeitig stieg die Anzahl Gipfelkreuze. Das verstärkte die Spannungen – ein erheblicher Teil der Alpinisten möchte keine Kreuze.

Obwohl ihr religiöser Aspekt in den Hintergrund gerückt ist?
Das Problem ist: Die Absender der Kreuzesbotschaft denken kaum an die Empfänger. Es entsteht ja kein religiöser Kult, bei dem sich die Initianten immer wieder um das Kreuz versammeln. Die religiöse Geschichte und der Anlass der jeweiligen Gipfelkreuze interessieren auf dem Berg die wenigsten. Unter Alpinistinnen und Alpinisten gibt es den Witz: Gipfelkreuze sind gut dafür geeignet, das nasse Wanderhemd aufzuhängen.

Herr Mathieu, wie kommen Sie und ich von unserem Gipfel auf der Lueg hier eigentlich wieder runter?
Oh ja, das Postauto haben wir gerade verpasst! Dann heisst es wohl: Laufen oder Autostopp. So ist es nun einmal in den Bergen.

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