Es war verlockend: ein Foto auf Instagram posten, ein paar kurze Zeilen über ihr Familienleben schreiben. Und schon hatte Nathalie Klüver (43) dreimal so viel Geld verdient wie für einen sorgfältig recherchierten Text für eine grosse Zeitschrift. So machte die Journalistin, Autorin und Bloggerin zwei Jahre lang einen Grossteil ihres Einkommens als Influencerin.
«Die Instagramwelt ist ein Business, in dem so getan wird, als sei es keines», schreibt Klüver in ihrem schonungslos ehrlichen Essay in der «Süddeutschen Zeitung». Sie hat mehrere Bücher geschrieben, in ihren journalistischen Artikeln thematisiert sie Frauen- und Kinderrechte. Unabhängig davon wuchs auf Instagram schleichend ihre Einflussnahme.
Eine Vegetarierin schwärmt von Fleischwurst
Eigentlich fing alles aufrichtig an. Klüver war vom scheinbar perfekten Familienleben auf Instagram genervt. Sie wollte einen Kontrastpunkt setzen, das echte Mama-Leben zeigen. «Mit all den Staubmäusen und dreckigen Klamotten. Ich wollte meine Leserinnen ermuntern, Mut zum Unperfekten zu haben», schreibt Klüver.
Das traf einen Nerv – ihre Beiträge erreichten Hunderttausende Follower. Likes und bauchpinselnde Kommentare poppten im Sekundentakt auf. Ein umwerfendes Gefühl, so Klüver. «Wie ein Junkie will man mehr und mehr.»
Schnell landeten die ersten Anfragen für Kooperationen im Postfach. Und schon pries die alleinerziehende Mutter von drei Kindern Fleischwurst als «super Snackidee für die Brotbox» an, obwohl sie seit 30 Jahren Vegetarierin war.
Sie schwärmte von einem Körperöl gegen Schwangerschaftsstreifen, obwohl sich ihre Haut kein bisschen verändert hatte. Sie lobte eine Pastasauce, obschon ihre Kinder den ersten Bissen mit einem «Igitt» ausgespuckt hatten – schliesslich hatte die Firma einen hohen dreistelligen Betrag für den Post bezahlt.
Die Beiträge finanzierten die Kleider ihrer Kinder und zahlten den Hauskredit ab. Trotz der inneren Stimme, die klar dagegen war: Weil Kinder- und Familienbilder Reichweite generieren, zeigte Klüver wesentlich mehr von ihrem Privatleben, als ihr lieb war. Immer wieder beschloss sie, aufzuhören. Dann landete ein neues, attraktives Angebot in ihrer Mailbox.
Die Mamis erobern den Feed
Der Alltag mit Kindern vereinnahmt junge Eltern komplett. Kein Wunder, suchen sie sich in den sozialen Medien Gleichgesinnte, Tipps und Inspiration. So sind sogenannte «Momfluencer» in den vergangenen Jahren zu einem bedeutenden Geschäftszweig herangewachsen. Mütter, die aus ihrem Leben erzählen – und ihre Follower durch platzierte Werbung zu Kundinnen machen.
Das Beeinflussungsbusiness boomt: In sieben Jahren ist das globale Influencer-Budget der Unternehmen von 1,7 Milliarden US-Dollar (2016) auf 21,1 Milliarden (2023) gestiegen. Mütter sind eine entscheidende Zielgruppe, so erreichen die berühmtesten Momfluencer gigantische Followerzahlen. Wie die Italienerin Chiara Ferragni (29,7 Millionen Follower), die Britin Giovanna Fletscher (2 Millionen Follower) oder die Schweizerin Nadine Huber (626’000 Follower).
«Ich bin wieder ich»
«Ach, einmal noch», flüsterte Klüvers innere Stimme mit Blick auf den Kontostand immer wieder. «Ist doch leicht verdientes Geld!» Als einen Tiefpunkt beschreibt die Journalistin, wie sie sich mit öligem Kaffeepeeling einschmierte und sich halb nackt fotografierte: «Nachdem ich den verstopften Abfluss gereinigt hatte, schwafelte ich auf Instagram über meine ‹superzarte Haut›.»
Inzwischen hat Klüver den Absprung aus der Scheinwelt geschafft. Aus ihrem Profilnamen «Ganznormalemama» wurde wieder Nathalie Klüver – Journalistin, keine Influencerin. Sie postet keine Werbung mehr, keine Storys aus dem Privatleben, keine arrangierten Chaosbilder. Der Preis: zehntausende Follower. Aber sie schreibt: «Seitdem bin ich wieder da. Ich bin wieder ich.»
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