Einblick in erstes Kinderhospiz der Schweiz
«Niemand weiss, wie lange unser Sohn noch lebt»

In Bern wurde das erste Kinderhospiz der Schweiz eröffnet – Eltern wie jene von Idris sind darauf angewiesen. Doch die Zukunft des Hospizes ist ungewiss. Ein Besuch vor Ort.
Publiziert: 09.02.2025 um 16:28 Uhr
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Aktualisiert: 06:06 Uhr
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Die Familie Ileri – Mutter Simona, Vater Soner und Sohn Idris.
Foto: Philippe Rossier

Auf einen Blick

  • Erstes Schweizer Kinderhospiz Allani für schwer kranke Kinder eröffnet
  • Eltern erhalten Entlastung, Kinder professionelle Pflege im 24-Stunden-Betrieb
  • Finanzierung von 3 Millionen Franken jährlich durch Spenden gesichert bis 2026
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.

Vor ein paar Tagen hat er seine Kleider in Fetzen gerissen. Mit den Fersen hat er an den Unterschenkeln geschabt, bis die Haut aufgeplatzt ist. «Ich musste ihn wie eine Mumie einwickeln», erzählt Simona Ileri (37). Solche «Phasen» – so nennt sie es, wenn sich ihr Sohn Idris (8) selbst verletzt – gebe es immer wieder. «Dann bin ich machtlos.» Reden, umarmen, egal was, alles sei dann kontraproduktiv. Doch heute ist ein guter Tag – «ohne Phasen».

Idris sitzt auf einem Stuhl, an einem Ort, der Allani heisst. Allani war die Göttin der Unterwelt bei den Hurritern, einem Volk aus der Bronzezeit. Sie begleitete die Seelen vom Diesseits ins Jenseits. In Riedbach, einem kleinen Weiler am Stadtrand von Bern, ist Allani ein Kinderhospiz – das erste in der Schweiz. Es ist seit August 2024 in Betrieb und eine Art Pilotprojekt. Ob es in ein paar Jahren noch existiert, bleibt ungewiss. Hospize sind in der Schweiz gesetzlich nicht verankert. Das bedeutet: Es gibt kein Geld vom Bund oder Kanton.

Auf dem Tisch liegt ein Handy, Schlagermusik ertönt. Idris liebt Helene Fischer – und Rammstein. «Dann freut er sich wi ne Moore», sagt Vater Soner Ileri (43). «Die Musik beruhigt ihn.» Idris schlägt zwei Metallschalen aufeinander und lächelt. «Auch das hilft», sagt Soner. Idris strahlt, wenn er eine gute Phase hat, so wie heute. «Dann zeigt er uns, wie schön das Leben sein kann.»

Geräusche sind für Idris mehr als nur Klang – sie sind seine Orientierung in einer Welt, die er nicht sehen kann. Idris ist blind. Der Bub spricht nicht, er versteht nur einzelne Wörter, und er kommuniziert, indem er Laute von sich gibt, schreit, weint oder lacht. Doch das sind nicht alle Einschränkungen, unter denen Idris leidet. Deshalb ist er hier – im Allani.

Ein Kind, viele Diagnosen

Auf der Webseite steht über das Hospiz geschrieben, es sei für «potenziell lebensverkürzend erkrankte Kinder und Jugendliche». Simona, die Mutter von Idris, sagt es so: «Niemand weiss, wie lange unser Sohn noch lebt.» Soner schüttelt den Kopf: «Nein, das stimmt nicht.» – «Du sagst immer Nein, aber es ist so», erwidert Simona. Stille. Soners Blick wird glasig. Simona legt ihren Arm um ihn, lehnt ihr Gesicht an seines. «Ich weiss, du hörst das nicht gern.»

Idris hat so viele Diagnosen, dass seine Eltern ein ratloses Gesicht machen, wenn sie danach gefragt werden. Als hätten sie den Überblick verloren. Dann zückt Simona ihr Handy und zeigt eine Liste. Fachbegriffe reihen sich aneinander: «Gastroschisis», «spastische Zerebralparese», «SOD-Syndrom». Seine Hirnrinde ist falsch entwickelt, der Hirnbalken zu dünn, das Gewebe an mehreren Stellen geschädigt. Dazu Autismus, eine schwache Motorik, Verhaltensstörungen, Zwänge – wie die Metallschalen, die er stundenlang gegeneinanderschlagen kann. Und die «Phasen».

Als Idris zur Welt kam, hatte er ein Loch neben dem Bauchnabel. Zwei Stunden nach der Geburt begann seine erste OP. Dann stellten die Ärzte fest: Sein Dickdarm war doppelt so lang wie üblich. Idris konnte kaum Proteine aufnehmen. Zeitweise hatte er mehrere Darmkehrungen pro Tag, der Darm drehte sich um sich selbst. Mit den Wochen, Monaten, Jahren kamen immer neue Komplikationen hinzu. «Ich weiss nicht mehr, was wann geschah», sagt Simona. «Mein Hirn hat das rausgefiltert.»

Eine Laune der Natur

Vor nicht allzu langer Zeit wurde das Ohr von Idris rot. Dann röter. 24 Stunden später lag er bewusstlos im Spital, angeschlossen an Schläuche. Die Diagnose: Mittelohrentzündung. «Ich hatte solche Angst, dass er nun auch noch sein Gehör verliert», sagt Simona. «Idris kann nicht sein Gehör verlieren – sonst hat er nichts mehr.» Die Ärzte bohrten den Schädel auf und entfernten den Eiter. Die Eltern hatten zum Glück schnell reagiert. Idris stand kurz vor einer Hirnhautentzündung.

Die Mediziner wissen nicht, weshalb Idris das alles hat. «Sie sagen: Das sei ‹eine Laune der Natur›», so Simona. Es sei kein Gendefekt, Untersuchungen hätten nichts ergeben. Simona sagt, sie sei in der Schwangerschaft gesund gewesen. Kein Alkohol, keine Drogen, keine Zigaretten, nicht einmal eine Erkältung. «Sehr lange hatte ich trotzdem Schuldgefühle. Idris kommt ja aus meinem Bauch.» Irgendwann habe sie diese Gefühle abgelegt. «Jetzt ist es einfach so.»

Idris kann über 80 Jahre alt werden. Er kann aber auch jederzeit einen epileptischen Anfall erleiden – oder einen tödlichen Überdruck in den Wasserkanälen des Gehirns entwickeln. «Bisher war diesbezüglich zum Glück nichts», sagt Vater Soner und fasst mit einer Hand an den Holztisch. Sollte es doch einmal passieren, dann seien sie froh, dass es einen friedlichen Ort wie das Allani gibt.

Steine, beschriftet mit Abschiedsworten

Im Kinderhospiz begleiten Pflegende und Seelsorger die Eltern, sie stehen ihnen bei, wenn das Leben schwindet, und halten Rituale ab, wenn ein Kind stirbt. Ein Zimmer im Allani heisst «Raum der Stille». In einer Ecke liegt das «Sternenbuch». Jedem Kind, das hier geht, wird eine Seite gewidmet. Zwei sind es bisher. Neben dem Buch steht ein Altar aus tönernen Figuren. Sie halten sich an den Händen, bilden einen Kreis, in der Mitte brennt ein Licht. Dazwischen liegen Steine, beschriftet mit Abschiedsworten: «Ruhe» – «Kleiner Engel, befreit von Leid und Schmerz» – «Pure Liebe… lebt für immer».

Im Allani kümmern sich 20 Teilzeitpflegende um die Kinder, zahlreiche Freiwillige helfen je nach Bedarf aus. Einer von ihnen ist Erich Stettler (66). Er möchte nicht fotografiert werden. Vor über 30 Jahren hat er sein eigenes Kind verloren – an Nierenversagen. Sein Sohn war 15 Monate alt, als er im Berner Inselspital starb. «Ich empfand es als unwürdig – der Spitalbetrieb kann der Situation nicht gerecht werden», sagt Stettler. Ein Ort wie das Allani hätte ihm geholfen. «Ich bin überzeugt, dass es ein Kinderhospiz braucht.» Heute macht er Betten, wischt Böden, hilft in der Küche, geht mit den Kindern spazieren. «Egal was», sagt er. Lange habe er destruktiv gelebt, «nun gehe ich so mit meinem Verlust um.»

Im Spital dominieren grelles Licht, kalte Metallbetten, weisse Linoleumböden. Alles wirkt makellos, als dürfe nichts Menschliches haften bleiben. Im Allani ist es anders. Einst ein Bauernhaus, hat es beim Umbau seine Seele behalten: schwere Holzbalken, Betten aus warmem Holz, sanfte Deckenlampen. Nur ein Raum wirkt wilder: Eine Discokugel an der Decke dreht sich langsam, bunte Farben wirbeln über die Wände, ein riesiger Plüschpanda lehnt in der Ecke. An einer Wand steht: «Platz schaffen für Lebensfreude.»

«Was ist jetzt wieder?»

Abschied nehmen – an diesem Ort geht es um mehr. Der Geschäftsführer von Allani, André Glauser (62), sagt es so: «Die Kinder sind in erster Linie hier, um zu leben, nicht um zu sterben.» Viele hätten ein falsches Bild, wohl weil es in der Schweiz lange gar kein Kinderhospiz gab. In Hospizen für Erwachsene bleiben die Menschen im Schnitt 21 Tage, bis sie sterben. Kinder mit lebensverkürzenden Krankheiten haben oft noch Jahre. «Hier fährt nicht jeder Tag der Leichenwagen vor», sagt Glauser. «Wir bieten eine professionelle Pflege im 24-Stunden-Betrieb.» Und wichtig sei die Entlastung der Eltern – so wie bei Simona und Soner.

Das Leben der Familie kreist um Idris, alles ist auf ihn ausgerichtet. Mutter Simona: «Wir planen kurzfristig, weil wir nie wissen, was kommt.» Es gab Zeiten, da mussten sie jede Woche ins Spital. Wie viele Untersuchungen Idris schon hatte? Schwierig. Unter Vollnarkose war er bestimmt schon fünfzehnmal. «Wir müssen jederzeit bereit sein, falls Idris etwas hat», sagt Soner. Auch unter der Woche, wenn Idris die Blindenschule besucht. Die Eltern sind rund um die Uhr Notfallkontakt. «Wenn mein Handy klingelt, denke ich: Was ist jetzt wieder?»

«Einfach loslassen – das geht nicht», sagt Simona. Aber einfach weitermachen, das geht auch nicht. «Sonst kollabiert man.» Idris’ Beschwerden sind so vielschichtig, dass ihn die Grosseltern nur für wenige Stunden betreuen können. Genau deshalb sei ein Ort wie das Allani so wichtig. Pflegende geben Idris Essen, spielen mit ihm, und sollte etwas passieren, weiss das Fachpersonal, was zu tun ist. «Wenn mein Kind hier ist, kann ich abschalten», sagt Simona.

Der Staat zahlt nichts

Ein Aufenthalt im Allani ist kostenlos. Eltern können ihre Kinder für eine Woche oder länger bringen – und das mehrmals pro Jahr, so die Idee. Doch es gibt einen Haken. In der Schweiz leben rund 10'000 Kinder mit einer lebensverkürzenden Krankheit. Im Allani haben aktuell nur vier Kinder gleichzeitig Platz. In Zukunft sollen es sechs bis acht sein. Ob es so weit kommt, ist offen. Denn der Betrieb wird weiterhin getestet und den Bedürfnissen der Eltern angepasst. Es gibt in der Schweiz ja kein Kinderhospiz, von dessen Erfahrung man lernen könnte.

Ein zweites Kinderhospiz entsteht gerade in Fällanden ZH. Doch warum gibt es sie nicht längst? «Das müssen Sie die Politik fragen», sagt der Allani-Geschäftsführer André Glauser. Auf Nachfrage seufzt er. «Ganz ehrlich, ich verstehe es nicht.» Das Gesundheitssystem in der Schweiz sei eben anders. Statt Eltern mit Hospizen zu entlasten, setze man auf Spitex-Dienste. «Aber das reicht nicht», meint er. «Das sagen uns alle betroffenen Familien.»

Die Politik scheint das bislang anders zu sehen. Im Gesetz sind Hospize nicht verankert. Der Staat zahlt keinen Franken. Damit das Allani überhaupt existieren kann, musste es als «Spitex-Betrieb» im Kanton Bern bewilligt werden. So erhält das Hospiz zumindest IV-Gutsprachen, die künftig maximal 30 Prozent der Kosten decken könnten. Der Rest? Kommt aus Spenden. Drei Millionen Franken pro Jahr braucht es, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. «Wir sind optimistisch, dass uns das gelingt», sagt Glauser. Die Finanzierung sei bis Ende 2026 gesichert. Und dann?

Ein Licht, das nicht erlöschen darf

Glauser ist Realist. Er weiss, dass die mediale Aufmerksamkeit nachlassen wird – und mit ihr wohl die Spenden. «Deshalb müssen wir mit der Politik bis 2026 eine Lösung finden.» Hoffnung gibt es: Im Herbst 2024 hat der EVP-Politiker Marc Jost (51) eine parlamentarische Initiative eingereicht. Jost fordert, dass Palliative Care gesetzlich verankert wird – und damit auch Kinderhospize wie das Allani. 51 Nationalrätinnen und Nationalräte aus allen Parteien haben den Vorstoss mitunterzeichnet. «Das stimmt mich zuversichtlich», sagt Glauser.

Simona und Soner hoffen, dass das Allani bleibt. Jedes Mal, wenn Idris eine Woche hier war, strahle er, sagt die Mutter. Sie schaut zu ihrem Sohn, er liegt auf einer Matratze im Wohnzimmer des Hospizes. Idris ist still. «Das gibt es nicht oft.» Dann sucht sie nach Worten. «Falls das Allani schliesst ...» Sie stockt. «Es wäre, als würde ein Licht erlöschen.»

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