«Hast du etwa oben ohne gemacht?» Die anderen Meitli in der Garderobe in der 2. Sekundarklasse beäugen mich unverhohlen. Das war Anfang der 1980er-Jahre, ich war gerade aus den Sommerferien aus Südfrankreich zurück. Dort fiel man am Strand auf, wenn man ein Oberteil trug. Zurück daheim war es genau umgekehrt, beim Umziehen vor dem Turnen war ich fast die Einzige ohne einen weissen Bikini-Abdruck.
Die Oben-ohne-Welle schien damals in der Zürcher Seegemeinde noch nicht so ganz angekommen zu sein – zumindest nicht unter uns Teenagern. Die Veränderungen des heranwachsenden Körpers und insbesondere des Busens waren schon verwirrend genug: aufregend und schön, zugleich auch verunsichernd und schambehaftet. Dabei ging es doch nur um eine weitere Befreiung des weiblichen Körpers, aus Kleidern, Korsetts, Badeanzügen und schliesslich auch des Bikini-Oberteils.
Sexuelle Befreiung
Dass die Sonne endlich auch auf den weiblichen Busen scheinen darf, dafür haben Frauen lange gekämpft. Manche demonstrierten auf der Strasse und verbrannten ihre BHs für die sexuelle Befreiung und Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Andere emanzipierten sich auf ihre Weise, am Strand. So wie das französische Sexsymbol Brigitte Bardot (88). Sie liess sich in den 1960er-Jahren ohne Oberteil ablichten, damit wurde sie zum Männertraum und löste bei den Frauen die Oben-ohne-Welle aus.
Eine ambivalente Rolle, wie sie viele Frauen bis heute kennen: Lege ich das Oberteil nun ab, weil ich mich damit freier fühle, oder setze ich mich damit vor allem Blicken aus? Sowohl dem männlich anzüglichen als auch dem weiblich kritischen – so zumindest das Klischee. Tatsache ist: Ein nackter Busen ist in unserer Gesellschaft kein gewohnter Anblick und zieht Aufmerksamkeit auf sich. Mehr als auch schon. Wenn jetzt die Badeanstalten für die Saison öffnen, sieht man im Gegensatz zu den 1980er-Jahren kaum noch blanke Brüste. Und wenn, dann im separaten Frauenabteil und eher bei der älteren Generation.
Warum halten sich Frauen oben lieber wieder bedeckt? Weil aus der ursprünglich emanzipierten Bewegung, in der es um eine körperliche Befreiung ging, ein Trend ohne politische Brisanz wurde? War es naiv zu glauben, man könne weibliche Brüste völlig von ihrer aufreizenden Symbolik befreien?
Fakt ist: Als 1978 im Marzilibad in Bern die ersten Frauen ihr Oberteil offiziell ablegen durften, kamen auch Spanner, die mit grossen Objektiven auftauchten und Fotos schossen. Heutzutage reicht dafür ein kleines Handy, und durch die sozialen Medien bekommen solche Bilder eine ganz andere Potenz: Jeder und jede ist quasi eine öffentliche Person, und niemand will auf seiner digitalen Visitenkarte nackte Haut zeigen – zumindest nicht, ohne selber darüber zu bestimmen.
Der Busen und die Frauenbewegung
Zudem änderten sich auch die Themen in der Frauenbewegung. Laut der französischen Philosophin Camille Froidevaux-Metterie (55) war in den 1970er-Jahren das zentrale Thema die Körperlichkeit. «Ich nenne es den Kampf um Reproduktion. Es geht um Sexualität und Mutterschaft, freie und kostenlose Verhütung», sagt die Autorin und Vertreterin des «verkörperten Feminismus» in einem Interview auf dem TV-Sender Arte. In den 1980er-Jahren verlagerte sich der Kampf an eine andere Front, es ging um die Arbeit. «Weil Frauen entscheiden konnten, ob und wann sie schwanger werden können, eröffneten sich neue berufliche Perspektiven, es ging um Lohn und Karriere.»
Es war eine Zeit, in der der weibliche Körper ein Stück weit negiert und eher dem männlichen angepasst wurde – etwa mit breiten Schulterpolstern, um Unterschiede auszumerzen. Zwar erreichten Frauen politische, soziale und sexuelle Rechte, aber gesellschaftliche Normen bestimmten noch immer über ihren Körper. Erst ab den 2000er-Jahren betrat der «emanzipierte» Busen wieder die politische Bühne. Die ukrainische Frauenbewegung Femen demonstrierte medienwirksam oben ohne, es wurde offen über Tabus wie Menstruation oder weibliche Lust diskutiert, 2017 schliesslich brachte die MeToo-Welle Bewegung in die patriarchalen Strukturen.
Sind alle Brüste gleich?
Jetzt hat der Busen die Genderdebatte erreicht, die Forderung: Gleichheit für alle Brustwarzen. Die GLP-Politikerin Sandra Bienek (44) hat im April beim Zürcher Stadtrat mit drei weiteren Mitunterzeichnenden eine entsprechende Anfrage deponiert. «Es geht darum, ob Frauen in den Zürcher Hallenbädern ohne Oberteil schwimmen dürfen. Und falls nein, warum nicht.» Es ist nicht der erste politische Vorstoss in diese Richtung. In Berlin ist die neue Badeordnung bereits durchgesetzt: Frauen dürfen mit der gleichen Selbstverständlichkeit nur in der Badehose ins Wasser wie Männer. Zugleich wird aber auch um das Recht gekämpft, dass sich Frauen bedecken dürfen – so aus religiösen Gründen im Burkini.
Dass eine nackte Brustwarze in der Öffentlichkeit bis heute für Aufregung sorgt, kennt Miri Wolff (22) aus eigener Erfahrung. Dabei macht sie nicht mal oben ohne. «Es hat schon gereicht, dass ich mich nach dem Schwimmen an der Seepromenade umgezogen habe und mein Busen für eine gefühlte Minute zu sehen war.» Eine ältere Dame beschwerte sich bei ihr, insbesondere weil dieser Anblick für das Enkelkind in ihrer Begleitung verstörend sei. «Dabei ist doch ein Nippel das Erste, was wir als Baby zu sehen bekommen und das uns nährt. Was soll daran falsch sein?»
Mit dem Busen zur Selbstbestimmung
Miri Wolff ist Busen-Aktivistin, sie gehört zu einer neuen Generation von jungen Frauen, die ihren Körper nicht verleugnen, sprich verhüllen wollen – ohne dafür zum Sexualobjekt degradiert zu werden. Schon als Teenager ist Miri Wolff bei feministischen Demos auf die Strasse gegangen und macht sich auch auf Social Media für die Bewegung «Free the Nipple» stark. Mit engen, weissen T-Shirts, die fast alles sehen lassen, eckt sie an. Oft werde sie deshalb von Männern angemacht: «Und weil sie damit keinen Erfolg haben, werde ich dann angegriffen und kritisiert.»
Beirren lässt sie sich davon nicht. «Das ist Heuchelei, zwei Klicks und auf dem Handy tauchen Millionen von Porno-Brüsten auf. Mir geht es darum, dass wir Frauen die Deutungshoheit über unseren Busen gewinnen.» Das nehme auch den Druck raus, perfekt zu sein. Sie zelebriert ihre weiblichen Rundungen: «Für mich ist das bestärkend», sagt sie. Auch bei ihrer Arbeit als selbständige Coiffeuse und Make-up-Artistin trägt sie keinen BH. Sie werde darum zuerst oft unterschätzt, am Erfolg hat sie das nicht gehindert, im Gegenteil: Letztes Jahr machte sie bei der ProSieben-Show «Dress Up» als Kandidatin mit und wurde Siegerin.
Ort der weiblichen Intimität
Aber längst nicht alle Frauen haben einen so selbstsicheren Bezug zu ihrem Körper oder wollen mit ihrem Busen politisieren. «Für die meisten Frauen ist das ein sehr privater, intimer Ort und wichtigster Teil ihrer weiblichen Identität», sagt die Psychologin Ada Borkenhagen. Auch ein erotischer: Eine Brustwarze kann genauso erregbar sein wie eine Klitoris.
Die Forderungen nach der «Nippelfreiheit für alle» sieht die Professorin für Psychosomatische Medizin an der Universität Magdeburg als Teil des Trends, alle Geschlechtsunterschiede einebnen zu wollen. Das mache weder medizinisch noch gesellschaftlich Sinn: «Es gibt nun mal biologische Unterschiede, und die weibliche Brust setzt nach wie vor ein anderes sexuelles Zeichen als die männliche. Das kann man nicht einfach mit einer neuen Regelung ändern.»
Zudem stösst die Idee, dass nackte weibliche Oberkörper in Badeanstalten allgemein erlaubt werden, bei Frauen nicht unbedingt auf Zustimmung. Laut einer repräsentativen Umfrage aus Deutschland begrüssen nur 28 Prozent der Befragten eine solche neue Regel.
Nicht ganz überraschend sehen das Männer mit 46 Prozent positiver. «Sie müssen ja nicht einen intimen Bereich entblössen», sagt Borkenhagen. Und eine solche Regelung könne auch Druck auslösen. Kommt hinzu, dass Frauen kritischer mit ihrem Körper umgehen: Zwei Drittel sind unzufrieden mit ihrem Busen. Das zeigt eine Befragung von 18'500 Frauen in 40 Ländern. Fast die Hälfte wünscht sich grössere Brüste, 23 Prozent kleinere.
Je entblösster, je höher der Druck
Borkenhagen ist überzeugt: «Je mehr vom Körper entblösst wird und man nicht mehr mit Kleidung oder BH formen kann, je höher der Druck, einem bestimmten Schönheitsideal zu genügen.» Derzeit schreibt sie an einem Buch mit dem Titel «Bin ich schön genug?», das im Herbst erscheinen wird. Ihre Beobachtung: «Seit in den 1960er-Jahren oben ohne modern wurde, begannen parallel dazu die Schönheits-OPs am Busen. Am häufigsten sind das noch immer Vergrösserungen.»
Natürlich hat das auch mit dem männlichen Blick auf den Busen zu tun. Aber was fasziniert denn so sehr an diesen beiden Rundungen? Fakt ist, dass nur Menschenfrauen zeitlebens einen vollen Busen vor sich hertragen. Bei allen anderen Säugetieren, wie etwa bei Affenweibchen, wölbt sich die Brust nur mit der Milchproduktion.
Die Evolutionsbiologie hat dafür nach verschiedenen Erklärungen gesucht, zu den populärsten gehört der aufrechte Gang von uns Menschen. Dadurch habe sich die sexuelle Attraktivität für das Männchen vom Po hoch zum Busen verlagert, zumal wir auch zu den wenigen Säugetieren gehören, die sich von Angesicht zu Angesicht paaren. Die These des US-amerikanischen Evolutionsforschers Desmond Morris (95) aus den 1960er-Jahren gilt heute als sexistisch und kulturell bedingt.
Erotisierung in der Renaissance
Denn die erotische Anziehung der weiblichen Brust ist alles andere als bloss naturgegeben. Das belegt der Blick zurück zu Urvölkern von Asien bis Afrika, wo der Busen nicht bedeckt wurde. In der europäischen Kultur wurde die Brust erst ab der Renaissance zur objektivierten männlichen Begehrlichkeit. Das zeigt sich in der Kunst, es ist der Beginn der Aktmalerei mit Darstellungen aus der Mythologie mit griechischen Göttinnen. Zuvor brauchte es einen religiösen Grund für Nacktheit, also für Adam und Eva oder die stillende Maria. Ob diese allerdings nur als ikonisches Symbol für das Leben und Fruchtbarkeit verehrt wurde, daran zweifelten sogar die Kirchenväter: Man fürchtete, dass die «Maria lactans»-Darstellungen die Gläubigen vom Gebet ablenken könnten.
Der Spagat zwischen Madonna und Hure ist also uralt. Da ist auf der einen Seite die starke Erotisierung der Brust, auf der anderen die Idealisierung der Mütterlichkeit. Und dann kommt der Busen auch noch politisch zum Einsatz – eine Multitasking-Aufgabe. Kein Wunder wollen viele Frauen ihr Brüste davor lieber schützen und bedecken sie. Oder bleiben damit barbusig unter sich.