Grau ist das Gebiet auf dem Zonenplan von Sarnen eingetragen. Doch es ist keine Beton- oder Asphaltwüste, weder eine Fabrikanlage noch ein Strassenkreuz. «Kleingartenzone» steht neben dem grauen Feld in der Legende des Plans. Und tatsächlich sind die über 5000 Quadratmeter an der Birkenstrasse 10 im Süden des Obwaldner Hauptorts eine grüne Oase.
In der Schweiz heissen sie Bünt oder Pünt, in Deutschland Datsche oder Laube, aber sie meinen immer dasselbe: ein kleines Stück Land zum Gärtnern. Entstanden sind diese Beet-Ansammlungen während der Industrialisierung in den Städten des 19. Jahrhunderts.
Mit den «Armengärten» wollte man dem Hunger entgegenwirken und das arbeitende Volk zur Selbstversorgung animieren. Insbesondere Männer sollten von der Fabrik aufs Feld, damit sie nicht Politik betreiben oder an der Flasche hängen und dem Alkoholismus verfallen.
Der Leipziger Orthopäde und Hochschullehrer Daniel Gottlob Moritz Schreber (1808–1861) regte bereits die Stadtjugend zur Ertüchtigung durch Arbeit im Grünen an. Doch Schreber ist nicht der Erfinder der Gartenbewegung, sondern bloss Initiator und Namensgeber.
Erst nach seinem Tod weihten die Leipziger 1865 den ersten «Schreberplatz» ein. Zunächst als Spiel- und Turnwiese für Kinder angelegt, liess der Pädagoge Heinrich Karl Gesell (1800–1879) den Nachwuchs ab 1868 am Rand Blumen- und Gemüse pflanzen und pflegen.
Zucht und Ordnung waren oberste Prinzipien von Schreber. Gestelle für gerade Sitzhaltung bei Tisch und kalte Sitzbäder zur Triebunterdrückung propagierte er als Erziehungsmethoden. Die Schweizer Psychologin Alice Miller (1923–2010) zählte Schreber denn auch zu den Hauptvertretern der «Schwarzen Pädagogik».
Dieses negative Bild führte dazu, dass sich speziell in der Schweiz heute viele Vereine nicht mehr Schrebergärten, sondern Familiengärten beackern.
In der Schweiz heissen sie Bünt oder Pünt, in Deutschland Datsche oder Laube, aber sie meinen immer dasselbe: ein kleines Stück Land zum Gärtnern. Entstanden sind diese Beet-Ansammlungen während der Industrialisierung in den Städten des 19. Jahrhunderts.
Mit den «Armengärten» wollte man dem Hunger entgegenwirken und das arbeitende Volk zur Selbstversorgung animieren. Insbesondere Männer sollten von der Fabrik aufs Feld, damit sie nicht Politik betreiben oder an der Flasche hängen und dem Alkoholismus verfallen.
Der Leipziger Orthopäde und Hochschullehrer Daniel Gottlob Moritz Schreber (1808–1861) regte bereits die Stadtjugend zur Ertüchtigung durch Arbeit im Grünen an. Doch Schreber ist nicht der Erfinder der Gartenbewegung, sondern bloss Initiator und Namensgeber.
Erst nach seinem Tod weihten die Leipziger 1865 den ersten «Schreberplatz» ein. Zunächst als Spiel- und Turnwiese für Kinder angelegt, liess der Pädagoge Heinrich Karl Gesell (1800–1879) den Nachwuchs ab 1868 am Rand Blumen- und Gemüse pflanzen und pflegen.
Zucht und Ordnung waren oberste Prinzipien von Schreber. Gestelle für gerade Sitzhaltung bei Tisch und kalte Sitzbäder zur Triebunterdrückung propagierte er als Erziehungsmethoden. Die Schweizer Psychologin Alice Miller (1923–2010) zählte Schreber denn auch zu den Hauptvertretern der «Schwarzen Pädagogik».
Dieses negative Bild führte dazu, dass sich speziell in der Schweiz heute viele Vereine nicht mehr Schrebergärten, sondern Familiengärten beackern.
«Familiengartenverein Sarnen» steht dort auf einer grossen Tafel. Die Schrift dreht sich mit einem Schmetterling um eine Sonnenblume, seit 2006 Symbole der Vereinsfahne. Die Pflanze steht für Wärme und Kraft der Natur, das Insekt gilt als Träger der Fruchtbarkeit. Auch wenn die Fahne noch keine 20 Jahre alt ist, den Verein gibt es schon seit über 75 Jahren.
Die Gemüse-Pflanzer begannen im Metzgern
Als im Zweiten Weltkrieg die Zürcher auf der Sechseläutenwiese beim See Kartoffeln ernteten, bepflanzten auch die Sarner die gut 500 Meter bis zum See. 1946 hob der Bundesrat die kriegsbedingte Anbaupflicht auf, doch fünf Zentralschweizer Männer wollten weiter gärtnern und gründeten am 22. September 1946 im Hotel Metzgern beim Dorfplatz die «Kleinpflanzer-Vereinigung» – eine Erfolgsgeschichte bis heute.
Eine Ausnahme in Zeiten, in denen Wohnungsnot und Verdichtung für solche Schlagzeilen sorgen: «Schrebergärten müssen zunehmend Wohnblocks weichen» (SRF vom 14. Oktober 2022). Ein Schicksal, das auch die rund 50 Pächterinnen und Pächter in Sarnen ereilte: Vor fünf Jahren mussten sie ihr Land für einen Erweiterungsbau der Seniorenresidenz «Am Schärme» aufgeben. Doch die Gartenfreunde liess man nicht im Regen stehen.
Tiefgraue Wolken hängen in den sattgrünen Hügeln rund um Sarnen, während Tobi Gisler (30) auf seiner Parzelle Scholle um Scholle umsticht. Sein Töchterchen wuselt derweil umher, und auf der Dachrinne des Gartenhäuschens hockt ein Hausrotschwanz. Von Zeit zu Zeit fliegt er runter, um zu kontrollieren, welche essbaren Insekten Gisler mit seiner Schaufel aus dem Erdreich zutage befördert.
Josef Kammermann (76) schaut ihm bei der Arbeit zu und sagt: «Diese Parzelle teilen sich zwei Familien.» Bis vor einem Jahr sei sie noch Teil der Baustelle für die Seniorenresidenz gewesen. Knapp 20 Meter hinter der Parzelle ragt jetzt die graubraune Holzfassade des viergeschossigen Neubaus «Schmetterling» empor – er steht dort, wo die Fahne mit Sonnenblume und Schmetterling entstanden ist.
«Kleingartenzone» schützt vor Neubauprojekten
Kammermann war 21 Jahre lang im Vorstand des Vereins, 15 Jahre dessen Präsident. An der GV im März dieses Jahres übergab er das Amt an seinen Nachfolger. «Es braucht jetzt frische Ideen», so Kammermann. Doch der gelernte Tiefbau-Polier legte das Fundament der heutigen Gartenbausiedlung – das Blütenwunder von Sarnen.
«Es war ein Glücksfall», sagt Kammermann bescheiden. Am 7. Mai 2010 informierte die Stiftung «Zukunft Alter» den Verein über ihre Ausbaupläne für die Residenz «Am Schärme». Es gab Beschwerden bis zum Regierungsrat. Da trat die Korporation Freiteil auf den Plan und übergab den Gärtnerinnen und Gärtnern ein fast gleich grosses Stück Land auf einer angrenzenden Wiese zur Pacht.
2018 gab es die letzte Ernte auf dem alten Areal, auf dem nun der 77 Meter lange und 35 Meter breite «Schmetterling»-Bau steht. Nach Pfingsten 2019 säten die Ersten bereits auf dem neuen Gelände an. Kammermann sorgte dafür, dass das Gebiet seit der letzten Zonenplanrevision als Kleingartenzone ausgewiesen und damit gegen weitere Neubauprojekte geschützt ist.
In den Beeten – nun Richtung See gerückt, ans Schienentrassee der Brünigbahn gedrückt – jätet Christine Dercourt (64) in Sichtweite des Obwaldner Kantonsspitals ennet der Gleise. Sie hofft, dabei nicht erneut auf ein totes Huhn zu stossen, das ein Fuchs einmal auf ihrer Parzelle vergraben hat. Vor drei Jahren zogen sie und ihr Mann Gunther Dercourt (64) nach Sachseln OW und bemühten sich um einen Garten in Sarnen.
Für 220 Franken auf 80 Quadratmetern gärtnern
«Für mich ist das Gärtnern ein Gegengewicht zu meinem Beruf, bei dem ich viel mit dem Kopf unterwegs bin», sagt der Mann mit St. Galler Dialekt, der Co-Geschäftsleiter einer sozialen Einrichtung im Baselbiet ist. Seit diesem Frühjahr ist Dercourt zudem Präsident des Familiengartenvereins Sarnen und damit Nachfolger von Josef Kammermann.
23'500 Mitglieder hat der Schweizer Familiengärtner-Verband (SFGV) – etwa so viele, wie es in ganz Frankreich gibt.
500 Hektaren Pachtland verwalten die Vereine im SFGV – das entspricht etwa 700 Fussballfeldern.
3 Pünten kommen in Winterthur ZH auf 100 Einwohner; damit hat die Stadt die höchste Familiengartendichte.
23'500 Mitglieder hat der Schweizer Familiengärtner-Verband (SFGV) – etwa so viele, wie es in ganz Frankreich gibt.
500 Hektaren Pachtland verwalten die Vereine im SFGV – das entspricht etwa 700 Fussballfeldern.
3 Pünten kommen in Winterthur ZH auf 100 Einwohner; damit hat die Stadt die höchste Familiengartendichte.
Der Verein hat gegen 100 Mitglieder mit einem Durchschnittsalter von 55 Jahren. Die Parzellen sind zwischen 60 und 100 Quadratmeter gross. Eine mittlere in der Grösse von 80 Quadratmetern kostet 220 Franken Jahresgebühr, davon gehen 22 Franken an den Schweizer Familiengärtner-Verband (SFGV). Dafür gibt es die monatliche Verbandszeitschrift «Gartenfreund».
Freundschaft pflegt man in Sarnen auch untereinander. «Wir sind eine so gute Runde hier», sagt Jacqueline Kammermann (73). Sie sitzt mit anderen bei Kaffee und Kuchen vor dem neuen Vereinshaus – eine alte Militärbaracke aus Einigen bei Spiez BE, die die Sarner für 100 Franken kauften, in zwei Lastwagenfahrten über den Brünig fuhren und hier in Fronarbeit wieder aufbauten.
Dennoch entstanden durch Zimmermannsarbeit und Elektroeinbau Kosten von gegen 30’000 Franken, wie Bauleiter Sepp Bucher (68) vorrechnet. Nun ist er noch mit Arealchef Martin Christen (68) für die Fertigstellung der einheitlichen 2500-fränkigen Gartenhäuschen zuständig, die sich je zwei Parzellen teilen. Wer will, bekommt eine Pergola als Vordach.
Nach dem Fluss rauschte die Bahn vorbei
Nur Johannes Lischer (82) tanzt aus der Reihe: Er hat sein Häuschen aus dem früheren Garten gezügelt. Seinen Himbeeren scheint der neue Ort nicht zu bekommen – die Ruten sehen noch braun und verdorrt aus. Das mag an der Erde liegen. «Wenn ich 20 Zentimeter grabe, stosse ich schon auf eine Lehmschicht», sagt Lischer. Grund: Hier war das Flussbett der Melchaa, bis man sie 1880 in den Sarnersee umleitete.
Acht Jahre später plätscherte da kein Wasser mehr durch, dafür dampfte der erste Zug von Luzern nach Interlaken BE hier vorbei. «100 Jahre Brünig-Bahn 1988», steht auf dem Email-Schild, das Serino Liberatore (70) an sein Gartenhäuschen geschraubt hat. In der Nähe von Neapel aufgewachsen, kam er mit 17 in die Schweiz und arbeitete viele Jahre für die Bahn, zuletzt als Lokführer für Güterzüge.
Seit mehr als 30 Jahren hat er mit seiner Frau eine Parzelle in Sarnen. Früh pflanzten sie Gemüse aus ihrer Heimat an – Auberginen, Zucchetti, Tomaten, die damals in Schweizer Gärten noch exotisch waren. «Hier kannte man fast nur Kartoffeln», sagt Liberatore und lacht herzhaft. Kartoffeln wird er dieses Jahr eine Menge ernten. «Das gibt 200 Kilo Agria», sagt er und zeigt auf sein Feld, «das können meine Frau und ich unmöglich allein essen.»
Schräg vis-à-vis gärtnern die Kammermanns. «Von den Italienern kann man immer etwas lernen», sagt Jacqueline Kammermann. Nur einmal ging etwas schief: Liberatore empfahl ihr eine Pflanze, die derart wucherte, dass darunter der Winterblumenkohl verkümmerte. Sei’s drum, sie ist froh um die Ausländer, die etwa die Hälfte der Parzellen beackern.
Familien mit Kindern sollen den Verein verjüngen
Diese Durchmischung gefällt auch dem neuen Vereinspräsidenten Dercourt. Er will nun noch dafür sorgen, dass mehr junge Menschen beitreten – seit kurzem sind sechs Familien mit Kindern neu dabei. Dem Nachwuchs zu zeigen, woher Gemüse kommt und das nach biologischen Richtlinien zu züchten, ist bei der jungen Generation gerade sehr im Trend.
«Wir propagieren, biologisch zu gärtnern», sagt Sepp Bucher, «aber wir sind keine Polizisten.» Und Dercourt ergänzt, für Junge sei ganz normal, wofür die ältere Generation noch Zeit brauche, weil sie dazulernen müsse. «Neu im Amt, lerne auch ich ständig dazu», sagt er. Und er weist auf die Tafel beim Eingang: Der frühere Familiengärtner-Verein heisst jetzt Familiengarten-Verein – schliesslich habe es hier ebenso viele Gärtnerinnen.
Seit 2020 hat Sarnen über 10’000 Einwohnerinnen und Einwohner, womit der Ort offiziell eine Stadt ist. Als solche könnte sie ein Vorbild für andere Städte in der Schweiz sein, wo Familiengärten immer mehr Neubauprojekten zum Opfer fallen. «Dabei ist ständig von grünen Lungen die Rede, die zur Abkühlung im Sommer nötig sind», sagt Dercourt. Familiengärten seien solche grünen Lungen.
Gewiss, im Mittelland haben weder Luzern noch Genf oder Zürich einen halben Kilometer unbebaute Wiese bis zum See, die den Sarner Landtausch erst möglich machte. Umso wichtiger ist es aber, zwischen den Häusern Gärtnerinnen und Gärtner praktizieren zu lassen. Denn wie heisst es schon in Goethes «Faust» von 1808: «Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, / Und grün des Lebens goldner Baum.»