Blick: Der St. Galler Bildungsdirektor Stefan Kölliker (SVP) will den Nachmittagsunterricht abschaffen, was halten Sie davon?
Rahel Tschopp: Grundsätzlich ist es ein sehr spannender Gedanke. Die Tage der Kinder sind viel zu lang. Das Modell gibt es beispielsweise in Norwegen, dort können die Kinder auch in der Oberstufe oft um 13.00 Uhr nach Hause. Das wirkt sehr entspannend für alle Beteiligten.
Würde das nicht die Betreuungsangebote überlasten?
Es muss sichergestellt werden, dass alle Kinder einen finanzierten Betreuungsplatz haben, davon geht Herr Kölliker ja auch aus. Ob das dann externe Angebote sind oder die Betreuung direkt innerhalb der Schule stattfindet, da gibt es verschiedene Optionen. Wichtig ist, dass man das Mittagessen integriert, das wird in Norwegen auch gemacht.
Der Vorschlag soll den Lehrpersonen mehr Vor- und Nachbereitungszeit geben. Brauchen sie das wirklich?
Der Tag einer Lehrperson ist voll und geht bis spätabends. Ganz viele kleine Sachen gehören zum Job, die einem als Aussenstehende gar nicht bewusst sind. Eine Lehrperson erzählte mir kürzlich, dass einer ihrer Schüler nicht nach Hause gehen wollte, weil er Angst vor einem Gewitter hatte. Was macht man in so einer Situation? Sie musste herumtelefonieren und schlussendlich benötigte sie eine Dreiviertelstunde. Wenn die Lehrpersonen am Nachmittag nicht unterrichten müssten, wäre dies eine enorme Entlastung.
Laut Stefan Kölliker könne die Unterrichtszeit auch ohne den Nachmittag gleich bleiben. Halten Sie das für realistisch?
Nein, auf keinen Fall. Man müsste den Unterricht neu gestalten. Nicht einfach die Lektionen vom Nachmittag in den Morgen reinquetschen, das funktioniert nicht, dann würde das System vollends kollabieren.
Wie würde diese Umgestaltung aussehen?
Mehr Individualisierung über Selbstlernangebote, dann wäre Herr Köllikers Vorschlag sicherlich denkbar. Die ganze Schule würde für die Kinder Lernmaterialien vorbereiten, so könnten sich die Lehrpersonen gegenseitig unterstützen. Lernschnelle Kinder gehen vorwärts und die, die mehr Zeit brauchen, könnten sich diese auch nehmen. Man hätte dann auch mehr Zeit für persönliche Gespräche mit den Schülerinnen und Schülern.
Bräuchte es dann nicht noch mehr Lehrpersonen, um diesen «individuellen Unterricht» zu ermöglichen?
Nein. Es braucht vor allem ein Umdenken. Zum Beispiel könnte man die Grundkompetenzen einiger Fächer im Team digital aufbereiten. Dann könnten Kinder selbstständig daran arbeiten. Das entlastet dann auch die Lehrpersonen. Zudem müssten die Ressourcen der Lehrerinnen und Lehrer flexibler und unbürokratisch während des Jahres umverteilt werden können.
Rahel Tschopp (51) berät und begleitet mit ihrer Denkreise GmbH Schulen im Wandel. Die Primarlehrerin, Heilpädagogin und Schulleiterin studierte Business Coaching und Change-Management und leitete das Zentrum Medienbildung und Informatik an der PH Zürich. Sie ist Mitglied der Arbeitsgruppe «Digitale Transformation» des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz. Zudem führt sie den Verein Compisternli mit dem Ziel, den Austausch der Generationen zu digitalen Fragen zu fördern. Jüngst war sie beteiligt an der Entwicklung des Kartensets «Wir machen Schule», das von Schulen und Familien bestellt werden kann und einen grossen partizipativen Prozess zur Frage anstossen will: Wenn ihr eine Schule erfinden dürftet – wie würde die aussehen?
Rahel Tschopp (51) berät und begleitet mit ihrer Denkreise GmbH Schulen im Wandel. Die Primarlehrerin, Heilpädagogin und Schulleiterin studierte Business Coaching und Change-Management und leitete das Zentrum Medienbildung und Informatik an der PH Zürich. Sie ist Mitglied der Arbeitsgruppe «Digitale Transformation» des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz. Zudem führt sie den Verein Compisternli mit dem Ziel, den Austausch der Generationen zu digitalen Fragen zu fördern. Jüngst war sie beteiligt an der Entwicklung des Kartensets «Wir machen Schule», das von Schulen und Familien bestellt werden kann und einen grossen partizipativen Prozess zur Frage anstossen will: Wenn ihr eine Schule erfinden dürftet – wie würde die aussehen?
Stefan Kölliker will auch über die Schulferien nachdenken und bringt gleich zwei Vorschläge: Entweder eine Woche mehr Ferien für die Schülerinnen und Schüler und dafür mehr Zeit für die Vorbereitung der Lehrpersonen oder zwei Wochen weniger Ferien, damit sich die Arbeitslast besser verteilt. Welchen Vorschlag bevorzugen Sie?
Für die Kinder würden weniger Ferien mehr Sinn machen, gerade auch in der langen Sommerpause geht viel vergessen. Zudem wäre es für berufstätige Eltern sicherlich eine Entlastung. Es sind ganz viele verschiedene Gedankenspiele möglich. Auch, dass Lehrpersonen während der Schulzeit der Kinder Ferien nehmen können.
Welche Reform würden Sie also einführen, wenn Sie Bildungsdirektorin wären?
Es soll nicht mehr darum gehen, eine genaue Anzahl an Mathestunden jede Woche zu haben. Vielmehr soll es um das Erreichen der Kompetenzen im Lehrplan gehen. Das System muss flexibler werden, Schulen müssen ohne grossen administrativen Aufwand eigene Lösungen erarbeiten können. Zudem das heisse Eisen: Abschaffen der Noten. Sie sind nicht mehr zeitgemäss. Leistung kann auch anders dokumentiert werden. Es wäre ein Hohn zu behaupten, eine einzige kurzfristige Massnahme könne die Schule entlasten. Nur wenn wir den Mut haben, traditionell gewachsene Strukturen aufzubrechen, können wir langfristige Lösungen schaffen. Die Ideen müssen zwingend mit einem Umdenken des Schulbetriebs und einem Wegkommen vom «lektiönlä» verbunden werden.