Darum gehts
- Peter Bichsel, Schweizer Schriftsteller, ist im Alter von 89 Jahren verstorben
- Bekannt für Kurzgeschichten und politisches Engagement als Redenschreiber für SP-Bundesrat
- Hinterlässt schmales, aber gewichtiges Œuvre mit eindrücklichen Sätzen
Die berühmteste «Kindergeschichte» von Peter Bichsel aus dem Jahr 1969 beginnt so: «Ich will von einem alten Mann erzählen», heisst es in «Ein Tisch ist ein Tisch»: «Von einem Mann, der kein Wort mehr sagt.»
Nun ist Peter Bichsel verstummt: Eine Woche vor seinem 90. Geburtstag, den er am 24. März hätte feiern können, ist der grosse Schweizer Schriftsteller der kleinen Form gestorben – «friedlich eingeschlafen» am letzten Samstag im Pflegeheim von Zuchwil SO.
Jetzt will ich von einem alten Mann erzählen, der kein Wort mehr sagt – von einem Mann, der in unseren Begegnungen während der letzten 30 Jahre gut zuhören konnte und jeweils lange nachdachte, bevor er mit leiser, nasaler Stimme ein paar Sätze sagte, die wie in Stein gemeisselt waren.
Bichsel war der Meister der literarischen Miniaturen: «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» machte ihn 1964 auf einen Schlag berühmt – ein unverschämt langer Titel für eine Sammlung mit Kurz- und Kürzestgeschichten.
Bichsel begann als Primarschullehrer
Bichsel war damals schon acht Jahre verheiratet mit der Schauspielerin Therese Spörri (1930–2005) und übte den Beruf des Primarschullehrers aus. Gesegnet die Schülerinnen und Schüler, die bei ihm in der Klasse waren.
Denn Bichsel konnte den Mitmenschen auch später auf sanfte Art etwas beibringen, so als hätten sie es selber entdeckt. Ja, Bichsel war ein Menschenfreund, selbst wenn er manchmal verschlossen und abweisend wirkte.
Anfang der 1990er-Jahre kam er an die Journalistenschule nach Zofingen AG und lehrte uns die Sprachpflege. Anhand der «Stilübungen» von Raymond Queneau liess er uns dieselbe Kurzgeschichte in ganz unterschiedlichen Tonlagen erzählen.
Denn auf den Ton komme es an, auf die leisen Zwischentöne – die hörte Bichsel in Gesprächen immer heraus. Er hatte ein feines Gehör, klopfte gerne das Gesagte des Gegenübers ab und zeigte, dass es eine hohle Phrase war.
Wenn ich ihn als Journalist bei einem Glas Roten im «Kreuz Solothurn» traf, dann bekam ich Antworten auf Fragen, die ich gar nicht stellte, aber gerne gestellt hätte. Bichsel sorgte dafür, dass ich bereichert nach Hause ging und einen lesenswerten Artikel abliefern konnte.
Sinnbildlich ist sein Autograf, wenn er seine Bücher signierte. Er beliess es nicht beim Namen, sondern zeichnete noch eine Art Blume, die auf etwas Herzförmigem wurzelte und über die Seite nach oben wuchs.
Redenschreiber von Bundesrat Ritschard
Seine Herzlichkeit liess Bichsel auch in die Politik hineinwachsen. 1957 in die Sozialdemokratische Partei eingetreten, war er von 1974 bis 1981 Redenschreiber für SP-Bundesrat Willi Ritschard (1918-1983), was mitunter zur Beliebtheit des Politikers beitrug.
Ein Beispiel ist Ritschards 1.-August-Rede von 1978: «Wir wissen nie recht, ob es eine Feier ist oder ein Fest», sagte der damalige Bundespräsident, «und darum wissen wir auch nie, was für ein Gesicht wir dazu machen sollen.» Typisch Bichsel!
Er hatte ein leidenschaftliches Verhältnis zu seiner Heimat: «Ich habe mit nichts so viel Ärger wie mit der Schweiz und mit Schweizern», schrieb er im Aufsatz «Des Schweizers Schweiz» von 1969. Aber er schrieb auch: «Ich fühle mich hier zu Hause.»
Die aktuelle Weltlage liess den notorischen Pessimisten verhärmt aussehen. Auf jüngeren Fotos ist Bichsel kaum je lächelnd zu sehen. Auch das Alter war ihm zunehmend eine Last. «Zu müd zum Lächeln und zu müd, um böse zu sein», wie es in «Ein Tisch ist ein Tisch» heisst.
Gerne hätte ich ihn im Hinblick auf seinen runden Geburtstag nochmals zu einem Interview getroffen. Doch bei Telefonanrufen duzte er einen zwar freundlich, sagte aber bestimmt ab. Und auf Briefe reagierte er zuletzt nicht mehr.
«Plagegeister» nannte er die Journalistin und den Journalisten von der «NZZ am Sonntag», die ihm vor seiner Wohnung in Bellach bei Solothurn auflauerten und ihn zu einem letzten Gespräch nötigten – Bichsel liess es geschehen.
«Wir haben einen Menschen verloren»
Auf die Frage, ob er Angst vor dem Sterben habe, sagte er in diesem Interview: «Ich habe unter vielen Toden von nahestehenden Leuten gelitten. Aber vor dem eigenen Tod? Nein, da fürchte ich mich nicht.»
Gedanken zu seiner Beerdigung machte er sich auch nicht. «Das ist nicht meine Beerdigung, sondern die meiner Nachkommen», sagte er. «Die sollen das so machen, wie sie wollen.»
Peter Bichsel hinterlässt eine Tochter, einen Sohn sowie Enkelkinder. Und er hinterlässt ein schmales, aber gewichtiges Œuvre: Seine Bücher füllen nicht ganze Regale, dafür sind die Texte voller eindrücklicher Sätze, die sich einem einprägen.
Wie Gedichte, die Bichsel in den späten 1950er-Jahren als Erstes in Zeitungen veröffentlichte. Bichsel-Sätze bleiben wie Verse im Kopf haften, und die Bücher sind bloss Erinnerungskrücken, falls einem etwas entfallen ist.
«Zu müd zum Lächeln und zu müd, um böse zu sein.» Dieser Satz zum Beispiel bleibt unvergesslich. Und so bleibt der Mensch Peter Bichsel in unseren Köpfen haften.
Wie sagte er am 9. April 1991 in der Abdankungsrede für seinen Freund Max Frisch (1911–1991) in der Zürcher St.-Peter-Kirche: «Wir haben keinen Schriftsteller verloren, wir haben einen Menschen verloren.» Genauso ist es auch jetzt.