Betroffene lüften Familiengeheimnisse
Vom heimlichen Halbbruder bis zum Nazi-Urgrossvater

Es wird geschwiegen, bis ein Zufall oder Tod das Verborgene an die Oberfläche bringt: Drei Betroffene erzählen von den Heimlichkeiten in ihrer Familie und wie sie damit umgehen.
Publiziert: 27.03.2023 um 01:08 Uhr
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Aktualisiert: 27.03.2023 um 10:42 Uhr
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Ein Schock für Gina: Ihr Urgrossvater hat als Nazi zu einem grossen Unglück auf der Welt beigetragen.
Foto: Philippe Rossier
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Katja RichardRedaktorin Gesellschaft

Geheimnisse gibt es fast überall. Aber wenn sie in der Familie über Jahre existieren und dann ans Licht kommen, kann das sehr belastend sein. Für den Geheimnisträger und die Betrogenen.

Betrogen und belogen wurden die sechs Geschwister Lisbeth, Christine, Tony, Monika, Adrian und Daniela. Ihr Vater war ein katholischer Priester, der in den 50er und 60er-Jahren mehrere Frauen schwängerte. Die katholische Kirche sah dabei zu – und unternahm nichts. Von ihrem Vater wussten die Kinder nichts bis kaum etwas.

Der Dokumentarfilm «Unser Vater» von Regisseur Miklós Gimes bricht nun das Schweigen. Die Geschwister sprechen über Scham und Verletzungen, über ganz Intimes. Über ihre Familie.

Die Kinder des Priesters sind mit ihrer Geschichte nicht alleine. Totgeschwiegenes gibt es fast in jeder Familie. So auch bei Gina, Flavia und Anna.

Gina* (18): «Mein Urgrossvater war ein Nazi»

Ihr Urgrossvaters war ein ranghoher Nazi: Davon hat Gina bei einer Familienfeier erfahren.
Foto: Philippe Rossier

Bei einem Familientreffen vor zwei Jahren in Berlin begegnete ich einem entfernten Cousin, er hatte recherchiert und zeigte mir einen Eintrag auf Wikipedia: mit meinem Urgrossvater! Er war ein ranghoher Nazi und Mitglied bei der SS. Im ersten Moment fand ich das einfach spannend, jeder möchte doch mehr über seine Vorfahren wissen. Und ganz besonders, wenn jemand eine Rolle in der Geschichte gespielt hat – er ist damals im Nürnberger Prozess als Zeuge aufgetreten.

Aufgeregt habe ich meinen Freunden den Eintrag gezeigt, wir diskutierten damals viel über den Zweiten Weltkrieg. Erst im Gespräch wurde mir richtig bewusst, was für eine Rolle mein Urgrossvater gespielt hatte und was das bedeutete: Es war seine Idee, dass man KZ-Häftlinge als unbezahlte Arbeitskräfte im Rüstungsbau einsetzt. Da wurde mir plötzlich schlecht, körperlich. Sein Blut fliesst durch meine Adern, aber darauf kann ich nicht stolz sein, es ist fast etwas eklig. Einerseits ist er dafür verantwortlich, dass es mich überhaupt gibt, anderseits ist er an einem grossen Unglück auf dieser Welt mitschuldig. Zwar ist es spannend, mit einem historisch wichtigen Ereignis verbunden zu sein, aber ich stehe auf der falschen Seite der Geschichte. Dafür schäme ich mich irgendwie.

Jetzt begreife ich auch, warum meine Grossmutter nie von sich aus über den Krieg gesprochen hat. Und wenn, dann erzählte sie von der Armut, die sie als Kind erlebt hat und was für ein schlimmer Fehler dieser Krieg war. Über ihren Vater und dessen Vergangenheit hat sie nie ein Wort gesagt.

Ich kann das verstehen, sie hat ihn bestimmt geliebt, das muss schwierig sein für sie. So wie für mich ein Stück weit auch. Darum mache ich auch kein Geheimnis daraus, zumindest in meinem privaten Umfeld. Aber meine Grossmutter lebt noch, darum möchte ich weder seinen noch meinen Namen öffentlich machen.

Flavia Schlittler (59): «Meinen Halbbruder werde ich nie finden»

Als Flavia (3.v.l.) sechs Jahre alt ist, wird der Vater Stadtrat – doch das Familienidyll trügt.
Foto: zvg

Nach aussen waren wir die perfekte Familie, zwei Mädchen, zwei Buben. Meine Mutter strickte für uns alle die gleichen Pullover, mein Vater war Stadtrat, ein angesehener Mann. Beim Wandern wurden wir bewundert, die Leute haben sogar fotografiert.

Aber nach innen sah alles ganz anders aus. Mein Vater war ein Patriarch und führte ein Angstregime. Im Wohnzimmer stand eine ganze Reihe von Bundesordnern, die wir nicht anfassen durften, niemals! Als neugieriges Kind hat mich das Verbot nicht lange abgehalten, die Ordner zu öffnen – natürlich erst als ich sicher war, dass mein Vater wirklich weg war, zu gross war die Angst vor seiner Wut. Ich kam gerade ins Teenie-Alter, als ich gewisse Inhalte verstand.

Beim Durchsehen entdeckte ich einen Beleg für die Alimente zugunsten von einem Daniel. Meinem Mami konnte ich mich damit anvertrauen, sie war unsere Verbündete. So erfuhr ich, dass meine Geschwister und ich noch einen Halbbruder haben. Er ist unehelich zur Welt gekommen, die Mutter ist mit ihm, als er noch klein war, nach Belgien ausgewandert. Er muss 15 bis 20 Jahre älter sein als ich, mehr war nicht herauszufinden. Niemand wagte es, unseren Vater darauf anzusprechen – das war absolut tabu.

In meinen jungen Jahren hat mich das sehr beschäftigt: Jedes Mal, wenn ich einen Daniel kennenlernte, dachte ich, was, wenn ich mich in den verliebe, und dann stellt sich heraus, dass das mein Halbbruder ist? Sogar meine eigene Identität habe ich infrage gestellt: Was, wenn ich gar nicht Tochter meines Vaters bin? Zeitweise habe ich mir das sogar gewünscht. Dieses Schweigen daheim hat mein Vertrauenskonstrukt erschüttert, darum bin ich wohl schon ein Stück misstrauischer und neugieriger als andere.

Mein Vater hatte viele Geheimnisse, die meisten hat er mit ins Grab genommen. Ich war 23 Jahre alt, als er gestorben ist. Somit gibt es kaum eine Möglichkeit mehr, meinen Halbbruder Daniel jemals zu finden – wenn er überhaupt noch am Leben ist.

Anna* (61): «Wer ist dieses Kind?»

Anna, als sie zwei Jahre alt ist: Dass ihre Mutter nicht ihre biologische Mutter ist, erfährt sie als 10-Jährige.
Foto: zvg

Das letzte Mal sah ich meine Mutter, als ich zehn Jahre alt war. Zumindest glaubte ich, dass sie meine Mutter ist. Sie hatte mich und meinen Bruder ins Auto gepackt und bei einer Bekannten zurückgelassen. Ich erinnere mich, wie ich oft an der Strasse stand und hoffte, dass ihr Auto auftauchen würde. Zugleich war der Umzug auch eine Befreiung, ich durfte zur Schule, zuvor war ich quasi in der Wohnung eingesperrt.

Die Frau, bei der ich jetzt wohnte, war sehr gläubig und schickte mich im weissen Kleid zur Erstkommunion. Es gibt ein Foto, ich stehe ganz am Rand, auf der Rückseite hat jemand geschrieben: «Wer ist dieses Kind?». Drei Monate nach dem Umzug kam die Nachricht, dass meine Mutter gestorben ist. Zugleich wurden die Behörden auf uns aufmerksam. So habe ich erfahren, dass ich aus Deutschland adoptiert wurde, genauso wie mein Bruder. Obwohl wir die Geburtsurkunden gesehen haben, war es schwer zu glauben, dass wir keine echten Geschwister sind – wir standen uns sehr nahe.

Wir wurden hin und hergereicht. Als 14-Jährige kam ich in ein Internat und begann mit der Suche nach meiner Identität. Ein langer Prozess. Später besuchte ich das deutsche Geburtshaus, wo ich 1962 zur Welt gekommen bin. Meine biologische Mutter wurde von einem amerikanischen Soldaten geschwängert – in Büren (D) war zu der Zeit ein Nato-Stützpunkt. Die Schwangeren wurden in das Geburtshaus abgeschoben, meine Mutter wurde kurz nach meiner Geburt wieder heimgeschickt. Ich blieb neun Monate da, bis ich von einem Schweizer Paar «adoptiert» wurde. Legale Papiere gibt es dafür nicht.

Mit 36 habe ich meine leibliche Mutter gefunden. Sie lebt noch immer im gleichen Ort, ist verheiratet und hat zwei Söhne. Ich tauschte mich schriftlich mit ihrem Bruder aus, sie unterschrieb jeweils mit: «Deine jeden Tag an dich denkende Mutter». Als ich schliesslich um ein Treffen bat, blockte ihre Familie ab.

Aber ich wollte sie wenigstens einmal sehen. Also fuhr ich einfach hin, eine Freundin begleitete mich. Wir haben von einer Telefonkabine aus angerufen und auf ein Treffen bestanden. Meine Mutter und ich haben uns angeschaut, sind uns in die Arme gefallen und haben geweint. Mehr als ein spärlicher Briefkontakt ist nicht geblieben, inzwischen ist der Kontakt ganz abgebrochen. Womöglich kriege ich irgendwann die Nachricht, dass meine Mutter gestorben ist. Mehr über meinen Vater habe ich nicht erfahren – er weiss wohl ohnehin nicht, dass es mich gibt.

*Namen der Redaktion bekannt

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Ein Priester und sechs verheimlichte Kinder – Film über Familiengeheimnisse
«Unser Vater»

Ein katholischer Priester, vier Mütter und sechs Geschwister. Der Dokumentarfilm «Unser Vater» von Miklós Gimes beleuchtet eine Familiengeschichte aus den 50er- und 60er-Jahren der Schweiz, die ihre Protagonisten bis heute belastet. Im Film brechen die Kinder des Priesters und heute längst Erwachsenen das fatale Schweigen. Sie erzählen von ihrer vaterlosen Kindheit, von ihren tapferen Müttern und fragen «Warum hat man nie geredet?». Kinostart ist am 6. April.

Mehr Infos auf www.unservater.ch

Ein katholischer Priester, vier Mütter und sechs Geschwister. Der Dokumentarfilm «Unser Vater» von Miklós Gimes beleuchtet eine Familiengeschichte aus den 50er- und 60er-Jahren der Schweiz, die ihre Protagonisten bis heute belastet. Im Film brechen die Kinder des Priesters und heute längst Erwachsenen das fatale Schweigen. Sie erzählen von ihrer vaterlosen Kindheit, von ihren tapferen Müttern und fragen «Warum hat man nie geredet?». Kinostart ist am 6. April.

Mehr Infos auf www.unservater.ch

Trailer zum Dokumentarfilm «Unser Vater»
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Ab 6. April im Kino:Trailer zum Dokumentarfilm «Unser Vater»
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