Auf einen Blick
- Shincheonji – die umstrittene südkoreanische Sekte steht im Fokus der Öffentlichkeit
- In der Schweiz ist sie die derzeit am aktivsten anwerbende religiöse Gemeinschaft
- Über 300'000 Mitglieder weltweit, hauptsächlich in Südkorea
Bahnhof Oerlikon in Zürich. Nadine Müller geht entlang der Gleise, ein paar Schritte nur, dann verschwindet sie in der Unterführung und steigt auf der anderen Seite die Treppe hoch, langsamer als die Männer und Frauen, die an ihr vorbei auf den Zug eilen. Als zählte sie die Stufen, als fiele ihr dieser Gang an diesem Ort schwer. Oben angekommen zeigt sie, weshalb. Sie hält inne und zieht mit dem Zeigefinger einen Kreis ums Bahnhofsareal. Das war ihre Route, damals. Sie sagt: «Ich habe es nicht gerne gemacht.» Nadine Müller sprach nicht gerne junge Leute auf der Strasse an. Doch genau das wurde von ihr und den jungen Frauen, die mit ihr unterwegs waren, erwartet. Sie schwärmten aus, fischten nach Menschen. «Wir hatten für die Ansprachen ein fixes Tagesziel», sagt sie.
Nadine Müller, die eigentlich anders heisst, war in den Fängen von Shincheonji – einer sektenhaften Gemeinschaft, die in der Schweiz aktiv ist. Besonders in Zürich. Die junge Frau unterwarf dieser ihr ganzes Leben. Jahrelang. Sie sagt: «Ich führte ein Doppelleben.» Nadine Müller ist ausgestiegen. Der Blick zurück fällt ihr schwer. Genauso wie das Sprechen darüber. Als Verräterin – so fühle sie sich. Doch sie will aufklären, andere davor bewahren, was sie erlebt hat. Und das deckt sich mit den Erzählungen anderer Betroffener, über die andere Medien schon berichtet haben.
Sektenfachstelle kümmert sich um Aussteigewillige
Shincheonji heisst auf Deutsch «neuer Himmel, neue Erde» und stammt aus Südkorea. Der Kopf dahinter ist Man Hee Lee (93). Er bezeichnet sich als der in der Bibel angekündigte «Pastor der Endzeit». Und behauptet weiter: Die Erde sei dem Untergang nahe, und jene Menschen, die ihm und seiner selbst zusammengebastelten Bibelinterpretation folgten, seien gerettet. Diese befänden sich heute schon im Himmel, seien unsterblich. Der ganze Rest der Menschheit sei verloren.
Der selbst ernannte Heilsbringer füllt in Südkorea Stadien, online kursieren Bilder mit einer Masse von jungen Menschen, die ihn feiern. 300’000 Menschen folgen ihm – obwohl er straffällig geworden ist: 2021 wurde er wegen Veruntreuung von Geldern verurteilt. Die Anhänger in der Schweiz missionieren auf der Strasse und im Internet. Und zielen vor allem auf junge Menschen wie Nadine Müller, die bereits gläubig sind, nicht selten Zuzüger, darunter auch Expats, die Anschluss suchen.
Genau das macht Fachleuten in der Schweiz Sorgen. Julia Sulzmann, die stellvertretende Leiterin von Relinfo, hat mit zahlreichen Aussteigerinnen gesprochen und sagt: «Shincheonji ist problematisch, weil sie derzeit die in der Schweiz am stärksten werbende neureligiöse Gemeinschaft ist.» Sie täusche gezielt Menschen, um sie in die Gemeinschaft zu bringen und auch drinnen zu behalten. Die Sektenfachstelle Relinfo geht von rund 300 Langzeitmitgliedern in der Schweiz aus – zusammen mit all jenen, die rascher wieder aussteigen als andere, seien es zeitweise bis zu 1000 Anhänger. Sie hat nun Anfang Jahr die Aussteigerplattform «New Heaven Can Wait» geschaffen. Diese unterstützt Ehemalige und solche, die an der Gemeinschaft zweifeln. Sie sollen sich austauschen können.
Sie überschütten die Leute mit Liebe
Zurück am Bahnhof Oerlikon. Nadine Müller sitzt nun in einem Restaurant, in der Wärme. Aus der Teetasse vor ihr auf dem Tisch steigt Dampf auf, immer mal wieder umschliesst sie sie mit beiden Händen, spricht leise dabei. Und zögerlich. Wartet jede Frage ab, anfangs. Nach einer Weile kommt sie ins Erzählen. Bilder schiessen ihr ins Gedächtnis. Gefühle in den Bauch. Die Wärme, die Geborgenheit, die sie empfunden hatte, nachdem zwei junge Frauen von Shincheonji sie an einem Bahnhof in Zürich angesprochen hatten. Wie Studentinnen wirkten sie, waren wie die gläubige Nadine Müller an der Bibel interessiert, das legten sie rasch offen. Doch kein Wort über die Gemeinschaft. Sie gaben vor, eine Umfrage zu machen. Müller machte mit. Sie wollten sie wieder treffen. Möglichst rasch. Müller dachte: klar. Sie sagt: «Es fühlte sich an, als seien wir Freunde.» Das fehlte ihr damals. Sie war gerade aus ihrer Schweizer Heimatgemeinde in die Stadt gezogen, kannte kaum jemanden.
Die Ansprachen von Shincheonji-Leuten wirken wie süsses Gift. Das hat auch die Autorin dieses Textes zu spüren bekommen. Zweimal im vergangenen Jahr steuerten zwei junge Frauen der Gemeinschaft auf sie zu und übergossen sie aus heiterem Himmel mit Nettigkeiten: der Mantel – super toll, ihre Ausstrahlung – soooo schön. Sie wollten sich mit ihr treffen, über die Bibel sprechen. Die Journalistin fühlte sich grossartig, doch hörte es da für sie auf. Für Nadine Müller fing es da erst an.
Nach den ersten Treffen ging sie in einem Wohnhaus in Zürich ein und aus. In der Zentrale des Schweizer Ablegers. Doch das war ihr erst nicht klar. Ihre neuen «Freundinnen» hielten sich bedeckt. Briefkasten, Klingelschild – nichts an diesem unauffälligen Haus am Stadtrand weist darauf hin. Müller wusste nur: Sie macht hier einen Bibelkurs. Dafür sass sie bald dreimal pro Woche am Abend in einem der kahlen Räume an einem Pult und hörte aufmerksam zu. Vorne hämmerte die Kursleiterin auf Englisch den Neuen die Lehren von Man Hee Lee ein. Das Ziel: die Neuen so lange zu bearbeiten, «bis sie im Kopf so weit sind», sagt Müller. Bis sie die ganze Lehre verinnerlicht haben. Bis sicher ist, dass sie loyal sind. Dann erst folgen die Gottesdienste, der eigentliche Eintritt in die Kirche. «Es ist Brainwashing.» Hirnwäsche.
Die Psychotricks machen abhängig
Das sieht auch die Relinfo-Fachfrau Julia Sulzmann so, sie sagt: «Shincheonji arbeitet mit Psychotricks.» Am Anfang steht das «Love-Bombing», das Übergiessen mit Liebe. «Das macht süchtig, das nutzt die Gemeinschaft aus», sagt sie. Um dieses Level an Liebe aufrechtzuerhalten, müsse man etwas tun: Neumitglieder anwerben und dafür sorgen, dass diese dabei bleiben. Das führt zur nächsten Manipulation, so Sulzmann: das «Sandwiching».
Bei Shincheonji gibt es die Alteingesessenen, die «Leaves» (Blätter), und die Neulinge, «Fruits» (Früchte). Jeder Frucht werden meist zwei Blätter zugeteilt. Sie umschliessen die Frucht, indem sie darauf angesetzt werden, die Neuen mit Komplimenten zu überschütten und auch so zu tun, als wären sie ebenfalls neu dabei. So können die Blätter Zweifel sofort zerstreuen. Falls doch welche aufkommen, melden sie diese heimlich nach oben weiter. Die Leiterin des Bibelkurses räumt dann in einer Unterrichtsstunde die Unsicherheiten gezielt mit Bibelpassagen aus dem Weg.
Ein ausgeklügeltes System. Für Nadine Müller war es irgendwann normal. Sie kannte nichts anderes mehr. Freunde, Freizeit – alles spielte sich innerhalb der Gemeinschaft ab. Jede freie Minute arbeitete sie für «SCJ» – sie spricht das Akronym auf Englisch aus. Und sie war ein «Leaf». Im Restaurant in Oerlikon nimmt sie ihr Handy aus der Tasche, tippt auf den Kalender und zeigt, wie ihr Leben zu jener Zeit aussah: Die Tage sind vollgespickt mit Einträgen, darunter viele Namen mit Früchte-Emojis dahinter – die Neulinge. Hinzu kam: Nadine Müller sollte schweigen. Niemand aus ihrem alten Umfeld sollte etwas wissen. So trug die Gemeinschaft es ihr auf. Sie sagt: «Ich kam mir wie ein Undercover-Agent vor.» Und macht eine Denkpause, dann schiebt sie nach: «Man glaubt: Ich gehöre zu den wenigen Menschen, die die einzige Lehre kennen, die die Menschheit retten.» Das sei der Antrieb. «Ich fühlte mich verantwortlich.»
Heute sieht sie das anders. Doch das brauchte Zeit. Anstoss für den Ausstieg gab ein Gespräch mit jemandem ausserhalb von Shincheonji. Die Person widersprach der Lehre. Für Nadine Müller war es nicht das erste Mal, doch liess es ihr diesmal keine Ruhe. Sie wollte wissen: Hat sie recht? Dann nahm sie ihr Handy und recherchierte tagelang zu «Shincheonji» und ihrer Lehre – obwohl genau das innerhalb der Gruppierung als «böse Frucht» gilt, die Verderben bringt. Was sie las, brachte ihr Weltbild ins Wanken, ihr ganzes Selbst, sie wusste nicht mehr: Liege ich richtig, wenn ich aussteige, oder hat die Gemeinschaft recht und ich liege falsch – und lande in der Hölle?
Leute im Ausland ziehen die Fäden
Shincheonji ist in der Schweiz als Verein organisiert, aber unter anderem Namen im Handelsregister eingetragen. Die Präsidentin weist die in diesem Text erhobenen Vorwürfe zurück. Die Gemeinschaft mache die Mitglieder nicht abhängig, drohe ihnen auch nicht damit, die Erlösung (Rettung vor dem Untergang) zu verlieren, wenn sie aussteigen. Der Ausstieg sei jederzeit möglich. Sie rate den Anhängern nicht, das eigene Umfeld über deren Mitgliedschaft anzulügen. Und zwinge diese auch nicht dazu, neue Leute anzuwerben und beim Missionieren die Herkunft zu verschleiern – «Shincheonji legt grossen Wert auf Transparenz».
Shincheonji ist stark hierarchisch aufgebaut. Laut Nadine Müller verfügen die Verantwortlichen in der Schweiz kaum über Macht. Funktionäre im Ausland kontrollieren alles. Sie sind es auch, die die Gottesdienste abhalten, die in der Zürcher Zentrale auf Bildschirmen gestreamt werden. «Die Leute in der Schweiz werden von jenen ganz oben ausgenutzt», sagt sie. Die Erkenntnis war ein Schock. Aber auch heilsam. Trotzdem: Trauer, Wut, Enttäuschung – all das bleibt. Und Wehmut: Sie musste Menschen, die sie mag, dort zurücklassen.
Weitere Infos zur Ausstiegsplattform: https://new-heaven-can-wait.org
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