Zwei Gamer essen in einer Spielpause Wurstbrötchen, und fast 10’000 Menschen schauen ihnen dabei zu. Das ist Twitch. Eine boomende Streaming-Plattform. Durchschnittlich 30 Millionen Menschen aus über 230 Ländern besuchen die Site am Tag.
Auch in der Schweiz zieht der «Fernseher für Gamer» immer mehr User an. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen steht Twitch kurz davor, Facebook auf der Beliebtheitsskala zu überholen, wie die Studie Digimonitor von der Interessengemeinschaft elektronische Medien (IGEM) und der WEMF AG für Werbemedienforschung zeigt.
Junges Fernsehen zum Mitmachen
So geht Twitch: Die Streamer veröffentlichen Videos, in denen sie sich selber live filmen. Manchmal machen sie Musik oder es läuft Sport, manchmal gibts politische Diskussionen oder eine Märchenstunde. Doch die meisten streamen Videospiele, für die Twitch hauptsächlich bekannt ist. So auch Corinne Egelhofer (28) aus dem St. Galler Rheintal, die sich seit 2018 unter dem Namen «cocoolada» beim Spielen von Fantasy-Games wie «League of Legends» filmt.
Während des Streamings können die Zuschauer auf Twitch nicht nur ihren Spielverlauf beobachten, sondern auch ihre Reaktion. Zusätzlich können sie «cocoolada» im Chat Fragen stellen, untereinander diskutieren oder Emotes, kleine Bildchen, in den Chat schicken.
«Durch das Livestreaming bin ich viel selbstbewusster geworden»
Das trifft einen Nerv: In der Schweiz hat sich die Anzahl junger Twitch-User in den letzten drei Jahren verdoppelt, während sich die Anzahl Facebook-User in derselben Altersgruppe fast halbiert hat. 2014 kaufte Amazon die drei Jahre zuvor gegründete Plattform für 970 Millionen US-Dollar.
Reto Hofstetter, Professor für digitales Marketing an der Universität Luzern, überrascht der Erfolg des Mediums nicht. «Einerseits ist Twitch mit dem Gaming-Content eine thematische Nische», sagt er. Andererseits vermittle die Plattform ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl: «Man hat einen direkten Zugang zu den Streamern, ausserdem kann man im Chat Gleichgesinnte finden.»
«Auf Twitch habe ich viel über Freundschaft gelernt», sagt Corinne Egelhofer. «Innerhalb der Community ist man für sich da.» Die Gespräche im Chat gingen manchmal richtig in die Tiefe. «Durch das Livestreaming und die positiven Reaktionen bin ich ausserdem viel selbstbewusster geworden, was mir auch in der realen Welt nützt.»
Die Superstars einer neuen Generation
Während sich mit gelegentlichem Streamen ein paar Hundert Franken im Monat verdienen lassen, sind die bekanntesten Twitch-Gamer Millionäre. Der Amerikaner Ninja verdiente allein 2018 rund zehn Millionen Dollar. In der Schweiz hat das noch niemand auch nur annähernd geschafft. «Das bräuchte extrem viel Zeit, Können und Glück», sagt Egelhofer.
Die Plattform ist gratis, doch kann man einzelne Streamer für monatlich rund 4.30 Franken abonnieren. Mit dem Abo fällt für die User die Werbung weg, dafür gibt es Emotes.
Genau mit diesen Emotes verdient Twitcherin Egelhofer, die eine Ausbildung zur Lehrerin gemacht hat, heute ihren Lebensunterhalt. «Als selbständige Grafikerin designe ich für andere Twitch-User Emotes oder Logos. Die Nachfrage ist gross, ich bin oft ausgebucht.»
Ein Finanzierungsmodell der Zukunft
Das Konzept von Twitch habe Potenzial, sagt Hofstetter. «Neben Popularität, Bestätigung und Viralität finden Influencer vor dem Screen die Möglichkeit, ihre Anhängerschaft direkt und unabhängig zu monetarisieren.»
Die wirtschaftlichen Anreize sind laut Hofstetter gross. «Wieso sollte ich als Influencerin oder Influencer mit meinen Inhalten das Werbemodell eines Grosskonzerns unterstützen und selber auf einen Grossteil des Einkommens verzichten?», fragt er. Er ist sich sicher: «Solche direkten Einkommensmodelle wie Twitch werden wir in Zukunft vermehrt zu sehen kriegen.»
Twitch ist zu Corinne Egelhofers Lebensinhalt geworden. Ihren letzten Geburtstag feierte sie online, ihre beste Freundin sowie ihren festen Freund hat sie im Livestream kennengelernt.