«Während der Corona-Zeit war es nicht einfach»
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Vom Dozenten zum Rockmusiker:«Während der Corona-Zeit war es nicht einfach»

Ein «Beziehungs-Crash» machte Jan den Otter (66) vom Dozenten zum Rocker
«Mein Motto: Rocken mit den Jungs statt Dösen vor der Glotze»

Blick-Leser Jan den Otter (66) hat seinen Job als Dozent an den Nagel gehängt und sich seither voll und ganz der Musik verschrieben. Wie es dazu kam und warum er ausserhalb der Komfortzone glücklicher ist.
Publiziert: 26.01.2022 um 10:05 Uhr
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Aktualisiert: 28.01.2022 um 15:35 Uhr
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Blick-Leser Jan den Otter (66) ist Musiker aus Leidenschaft.
Foto: Philippe Rossier
Noah Salvetti (Text), Philippe Rossier (Fotos)

Dass es Leser Jan den Otter (66) so meinte, als er sich auf den Blick-Aufruf hin meldete und schrieb, er lebe nach dem Motto «Rocken mit den Jungs statt Dösen vor der Glotze», wird beim Betreten des bunten Bandraums auf dem Lenzburger Hämmerli-Areal klar. Wo einst Waffen hergestellt wurden, ballern heute Rockklassiker von The Doors, Rolling Stones und Konsorten aus den Lautsprechern.

«Mein neues altes Ich»: Darum gehts

«Erstens kommt es anders, und zweitens, als man denkt», sagt der Volksmund. Wir finden: Da ist etwas dran. In der zweiten Lebenshälfte macht man sich vermehrt Gedanken darüber, wo man im Leben steht: Habe ich noch unerfüllte Träume? Bin ich zufrieden mit meiner jetzigen Situation? Oft als «Midlife-Crisis» abgestempelt, leiten diese Gedanken oft eine Neuorientierung ein.

Blick hat Leserinnen und Leser aufgespürt, die all ihren Mut zusammengenommen haben und ihr Leben in der zweiten Lebenshälfte total umgekrempelt haben. Hier stellen wir sie und ihr «neues altes Ich» vor.

«Erstens kommt es anders, und zweitens, als man denkt», sagt der Volksmund. Wir finden: Da ist etwas dran. In der zweiten Lebenshälfte macht man sich vermehrt Gedanken darüber, wo man im Leben steht: Habe ich noch unerfüllte Träume? Bin ich zufrieden mit meiner jetzigen Situation? Oft als «Midlife-Crisis» abgestempelt, leiten diese Gedanken oft eine Neuorientierung ein.

Blick hat Leserinnen und Leser aufgespürt, die all ihren Mut zusammengenommen haben und ihr Leben in der zweiten Lebenshälfte total umgekrempelt haben. Hier stellen wir sie und ihr «neues altes Ich» vor.

Entsprechend sieht es aus: Schlagzeug, Mikrofonständer und Verstärker bilden das Zentrum des Raums, Kabel schlängeln sich über den abgewetzten Teppichboden, bunt gemusterte Tücher hängen an den Wänden. Und mittendrin, auf dem Drumhocker – der Blick-Leser, der sein Leben im Pensionsalter so richtig umkrempelte.

Als hätte er nie etwas anderes gemacht, sitzt er da, mit seinen tätowierten Armen, dem Hawaiihemd und dem grauen Hut. Hier probt Jan den Otter einmal die Woche mit seiner Coverband «Fresh Cream» – eine Hommage an «Cream», die Band der Gitarrenlegende Eric Clapton (76) und die erste Supergroup der Rockmusik. Auch wenn der Raum eher wie die Wiege einer legendären Rock-Formation anmutet, waren die Ambitionen, eine Musikgruppe von Weltrang zu werden, nie besonders gross. Der Spass stehe im Vordergrund, sagt den Otter. «Hauptsache, vor Publikum auftreten. Ob das vor zehn oder dreissig Leuten ist, spielt keine Rolle.»

Rock 'n' Roll statt Rechnungswesen

So wie sich Jan den Otter da präsentiert, kennt man ihn noch nicht allzu lange. Bevor sich der 66-jährige seiner Leidenschaft, der Musik, widmete, war er 13 Jahre lang als Dozent an mehreren privaten Kaderschulen tätig. Doch bereits der Dozentenjob war das Resultat einer früheren Neuorientierung, war er doch zuvor als Krawattenträger im Kader eines internationalen Elektrogeräte-Herstellers unterwegs. «Nach 20 Jahren haben sie mich wegen Umstrukturierungen freigestellt. Die haben da eine ganze Unternehmenseinheit aufgelöst», sagt den Otter. Rückblickend hätte er das Unternehmen besser auf eigene Initiative verlassen, als auf die Kündigung zu warten. «Es begann damit, dass ich mich nicht mehr wohlfühlte. Wenn du dann selbst nicht den Schritt machst, hilft das Schicksal eben nach», sagt der Blick-Leser.

Mit viel Zeit und dem Willen zu einer Neuausrichtung im Rücken klopfte er bei einem Kollegen an, der eine Kaderschule besass. «Er konnte mir direkt ein paar Pensen als Dozent in Rechnungswesen, Rechtskunde und Volkswirtschaft anbieten», berichtet den Otter. Die Tätigkeit habe ihm wesentlich mehr zugesagt als der Management-Job. «Ich hätte von Anfang an unterrichten sollen. Das liegt mir sehr.» Nach 13 Jahren kam der Bruch mit der Dozenten-Tätigkeit. Oder vielmehr der schrittweise Rückzug aus dem Hörsaal zugunsten seines Musiker-Daseins: Heute doziert er noch einen halben Tag pro Woche.

«Fuck it, jetzt bist du halt solo!»

Auslöser für die Veränderung waren, diplomatisch ausgedrückt, private Gründe. Doch Jan den Otter wäre nicht er, wenn er dafür nicht vollkommen andere Worte benutzen würde, geschmückt mit einer ordentlichen Portion Anglizismen: «Auslöser für den neuen, freieren Lifestyle war ein Beziehungs-Crash.» Mit seiner damaligen Partnerin habe er in etwa 20 Minuten eine Bucket List mit einigen noch unerfüllten Lebensträumen verfasst. «Als die Beziehung kurz darauf in die Brüche ging, sagte ich mir bewusst: Fuck it, jetzt bist du halt solo!»

Und so begann den Otter, die Liste selbst abzuarbeiten. Eine halbe Stunde nach dem letzten Gespräch mit seiner Ex-Freundin sass er bereits in einem Tattoostudio in Luzern, um die Veränderung, die er durchlief, auch unter die Haut zu bringen, erinnert sich der 66-jährige noch genau. «Der Wunsch nach Tätowierungen war schon länger da und somit auch weit oben auf der Liste», sagt er und zeigt auf das erste Tattoo – ein gebrochenes Herz, mittlerweile überstochen mit dem Namen der jetzigen Partnerin, Pia. «Ich will jetzt einfach machen, was ich will», habe er sich gesagt, als er das Heft in die Hand nahm.

Ein Schlüssel unter der Haut

Auf die Frage, wie sein Umfeld auf die Tätowierungen reagiert habe, antwortet den Otter: «Man ist ja nicht gleich ein anderer Mensch, nur wegen ein paar Tattoos, weil man persönliche Grenzen erforscht oder in einer Band rockt. Wegen dem bist du nicht gleich Ozzy Osbourne.»

Auf seiner Schulter prangt das Motiv eines Schlüssels – nicht irgendein Schlüssel. «Der gehörte meinem Grossvater, der beim Bombardement von Rotterdam 1940 umkam», erklärt Jan den Otter, der als Sohn niederländischer Expats in die Schweiz zog, als er 15 war.

Klar ist aber auch – bei jedem radikalen Lebenswandel schwingt auch ein sozialer Aspekt mit: «Man muss es sich auch finanziell leisten können, das Arbeitspensum zu reduzieren und sich vermehrt der Leidenschaft zu widmen.»

Jan den Otter und die Musik, das war Liebe auf den ersten Ton: «Ich bin ein typisches Kind der Sechziger, ein Beatles-Teenie. Dieser Sound hat mich damals magisch erfasst und nie mehr losgelassen, erst recht nicht, als ich mit 14 eine Gitarre geschenkt bekam». Auf der Akustikgitarre spiele er mittlerweile über hundert 100 Pop- und Rockklassiker.

Vier Bassisten in sechs Jahren

«Fresh Cream» rocken seit nunmehr sechs Jahren. Gegründet hat Jan den Otter die Band mit einem Kollegen, den er im Gesangsunterricht kennenlernte. «Ich nehme immer wieder Stunden bei einem Vocal Coach, damit das auch einigermassen anständig klingt, was ich da singe.» Der Kollege hat die Band inzwischen verlassen. «Ich mache mir da keine Illusionen, jeder Gig könnte der letzte sein. Bandkollegen kommen und gehen. Inzwischen haben wir schon den vierten Bassisten», erzählt er und philosophiert darüber, ob das wohl an der Monotonie des Instruments liegen könnte.

Wenn keine Rockklassiker aus den Verstärkern scheppern, lässt es der Blick-Leser anderweitig krachen. So begann er etwa, Schiesskurse zu nehmen und kaufte sich mit 62 zum zweiten Mal ein Motorrad. «Einmal bin ich damit gestürzt und hatte viel Glück. Da habe ich beschlossen, nicht mehr zu fahren. Ich will nicht riskieren, dass ich mich an der Hand verletze und nicht mehr Gitarre spielen kann!»

Die Bucket-List leert sich allmählich

Doch warum das alles? «Nach der Pensionierung hat man mehr Zeit für persönliche Interessen. Was für einige Altersgenossen das Betreuen ihrer Enkel ist, ist für mich eben die Musik!» Vielleicht sei das eine Art Gesetz, dass man im Leben immer wieder mal einen Tritt in den Hintern brauche, um aus der Komfortzone auszubrechen und etwas Neues, Ungewöhnliches zu wagen: «Ich würde jedem empfehlen, im Alter ein paar verrückte Dinge auszuprobieren, denn Prestige, Karriere und Job sind dann ja nicht mehr wichtig.»

Dass die Bucket-List sich immer mehr leere, sei ein gutes und ein schlechtes Zeichen, sagt Jan den Otter. «Ich habe langsam gar keine Ideen mehr!», sagt er. An alles, was nach 70 kommt, habe er keine so grosse Erwartungen mehr.

Ein unerfüllter Traum ist da noch: «Schön wäre es, mal die Gitarre zu packen, auf den Kanaren zu überwintern und dort Strassenmusik zu machen», sagt Jan den Otter und geht entschlossen Richtung Mikrofonständer. Dann, ein Knirschen des Verstärkers und ein Gitarren-Intro später, mimt er Neil Young: «Keep on rockin' in the free world!»

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