Edward Lenssen ist Mitgründer und CEO des europäischen Softwarehauses Beech IT in Venlo (NL), das auf die Entwicklung hochkomplexer Softwaresysteme spezialisiert ist. Und der Niederländer macht sich Sorgen um die Autoindustrie. Er behauptet: «Machen die Auto-Hersteller weiter so wie bisher, tappen sie von der aktuellen Chipkrise direkt in die Softwarefalle.»
Lenssen begründet seine provokante Aussage mit der Tatsache, dass künftig selbstfahrende Autos mit ihrer Künstlichen Intelligenz KI quasi zu fahrenden Computern auf vier Rädern werden – «mit hundertmal so viel Softwarecode wie aktuelle Fahrzeuge». Benötigen aktuelle Oberklasse-Personenwagen ohne KI-Steuerung rund 100 Millionen Zeilen Programmcode, werden die in absehbarer Zeit immer autonomer fahrenden Autos bald weit über eine Milliarde Codezeilen benötigen, schätzt der niederländische Software-Spezialist. Lensson verweist dabei darauf, dass alle Google-Services zusammen heute ja bereits mehr als zwei Milliarden Zeilen Softwarecode umfassten.
KI wird zum wichtigsten Erfolgsfaktor
Lenssen steht mit seiner Meinung nicht allein da. Im Report «IT-Trends der 2020er-Jahre», basierend auf einer Umfrage unter 100 IT-Fachleuten, gehen 61 Prozent der Experten davon aus, dass sich Software in den nächsten Jahren für die Wirtschaft als DER entscheidende Erfolgsfaktor herauskristallieren wird. Und 76 Prozent der Befragten stufen Künstliche Intelligenz KI «in zunehmendem Masse als unerlässlich für die Wettbewerbsfähigkeit» ein.
Deshalb mahnt der Niederländer: «Ganze Wirtschaftszweige wie zum Beispiel die Autoindustrie oder die Logistikbranche müssen ihre Softwarekompetenz und ihre Programmierkapazitäten drastisch erhöhen, um künftig wettbewerbsfähig zu bleiben.» Nicht ganz uneigennützig empfiehlt er den Auto-Herstellern, massiv in die Entwicklungskapazitäten von Halbleitern und Software zu investieren. «Kurz- bis mittelfristig kommen grosse Hersteller wie BMW, Daimler oder der VW-Konzern nicht darum herum, sich über die Halbleiterversorgung hinaus externe Software-Entwicklungsteams zu sichern.»
Grössere Software-Abteilungen aufbauen
Damit die grossen und renommierten Auto-Hersteller auf dem Fahrzeugmarkt der Zukunft weiterhin mithalten können, müssen sie Software-Entwicklungsabteilungen aufbauen, die beinahe so gross wie bei Apple, Amazon oder Google sind, behauptet Lenssen. Das dauere aber und sei ein langwieriger Prozess von mindestens fünf bis zehn Jahren. Und während dieser Zeit sei die Autoindustrie gut beraten, sich jede Programmierleistung einzukaufen, die sich auf dem Markt finde, rührt der Niederländer die Werbetrommel für Software-Unternehmen wie seines. «Ohne ausreichende Softwarekapazitäten ist die traditionelle Autoindustrie sonst dem Untergang geweiht», malt er ein düsteres Bild.
Mit einem Seitenhieb auf die aktuell weiterhin angespannte Chip-Versorgungssituation sagt Edward Lenssen: «Der Bedarf an Software wird in den nächsten Jahren exponentiell wachsen. Aber nur wenige Firmen in der Autoindustrie und auch in anderen Branchen haben einen Plan, wie sie diese Herausforderung meistern wollen. Und für diese Unternehmen», so der niederländische IT-Experte, «werden die Softwaredefizite in den nächsten Jahren genauso überraschend kommen wie der aktuelle Chipmangel. Obgleich beides schon lange Zeit vorauszusehen war.»