Die Zeiten, als China nur Billigkopien deutscher Autos konnte, sind längst vorbei. Der Nio ES6 ist das beste Beispiel: Das Innere macht einen guten Eindruck. Leder, dazu grosse Displays und auch hinten und im Laderaum (672 bis 1433 Liter) jede Menge Platz im 4,85-Meter-Nio. Und sogar pfiffige Luxus-Features sind an Bord, etwa der Beifahrersitz mit einer ausfahrbaren Beinunterlage.
Vielleicht mag der Feinschliff eines Audi E-Tron oder Mercedes EQC noch fehlen, dafür dürfte der ES6 aber auch umgerechnet nur rund 65'000 Franken kosten, womit er mal eben 15'000 bis 20'000 Franken günstiger wäre.
Der ES6 in Zahlen
Obendrein hat der Chinese auch bei der Power die Nase vorne. Unser Testwagen hat in der Performance-Version 400 kW (544 PS) – 160 kW (218 PS) vorne und 240 kW (326 PS) hinten – und 725 Nm. Aber auch die schwächere Version lässt mit 320 kW (435 PS) die Konkurrenten von Mercedes und Audi (je 300 kW bzw. 408 PS) hinter sich. Mit so viel Power und Allrad gehts in 4,7 Sekunden auf Tempo 100. Von dort zurück zum Stillstand gehts auf 33,9 Metern Weg. Kein übler Wert für einen 2,5 Tonnen schweren SUV. Die Spitze liegt bei 200 km/h.
Kilometer fressen
Der Nio ES6 ist in erster Linie ein Reiseauto. Das erledigt der China-SUV prima. Solange es geradeaus geht, ist alles in Butter. In den Kurven zeigt er sich nicht ganz so wendig wie die deutsche Konkurrenz. Die Lenkung fühlt sich synthetisch an, die Regelsysteme greifen zu früh ein. Das stört aber nicht wirklich, und Nio sieht den ES6 nicht als dynamischen Kurvenfeger, sondern als «intelligenten Langstrecken-SUV» – und hierbei lässt der Chinese keine Wünsche offen.
Die Luftfederung (Serie in der Performance-Version) sorgt für den entsprechenden Komfort. Bei den Assistenten klotzen die Chinesen und sorgen so für entspanntes Reisen. Insgesamt 23 Sensoren und Kameras sollen bis zu 20 Assistenzsysteme ermöglichen. Dazu zählen neben autonomen Fahrfunktionen auch ein Automatik-Parkassistent und die Überwachung des kreuzenden Verkehrs (vorne und hinten).
Bis zu 430 Kilometer
Im Unterboden steckt eine 70-kWh-Batterie. Sie soll eine Reichweite von maximal 430 Kilometer garantieren. Als wir starteten, zeigt der Bordcomputer 360 an, aber der Akku war nicht vollständig geladen. Solange es in der Stadt im Stop-and-Go vorangeht, hält sich der Akku wacker. Bei 79 Prozent Kapazität zeigt das Display immer noch 340 Kilometer an. Ganz ordentlich, vor allem da die Klimaanlage viel zu tun hatte. Wie bei allen Stromern geht die Reichweite auf der Autobahn etwas schneller zur Neige. Dabei ist der ES6 wie gemacht für die Schweiz. «Ja, 120 km/h ist die magische Grenze», erklärt ein Nio-Sprecher. Wer schneller fährt, zum Beispiel in Deutschland, muss auch schneller wieder eine Ladesäule ansteuern.
Der digitale Beifahrer
Leider konnten wir nicht die putzige Emoji-Kugel-Assistentin «Nomi» testen. Der Sprachassistent kann eigentlich allerlei, beispielsweise die Fenster öffnen oder mit der Innenraum-Kamera Selfies der Insassen schiessen. Aber da es sich eben bei unserem Testwagen noch um eine chinesische Ausführung handelte, konnte das Multimediasystem nur auf Mandarin. Das hielt die wachsame Begleiterin nicht davon ab, Verkehrswächterin zu spielen. Überfahren wir ohne Blinken etwa eine Fahrbahnmarkierung, setzt Nomi im Display eine Brille auf, in deren Gläsern die entsprechenden Markierungen zu sehen sind – das macht die digitale Nomi zur digitalen Beifahrerin. Immerhin zeigt sie keinen erhobenen Zeigefinger.
Warten bis 2022
Ob alle diese Funktionen auch in Europa an Bord sein werden, ist noch nicht klar. Nio will den ES6 erst 2022 nach Europa bringen. Gespannt dürfen wir sein, ob die Chinesen dann auch ihr Batteriewechsel-System mitbringen, das in rund dreieinhalb Minuten den leeren Akku gegen eine volle Batterie tauscht.