Auf einen Blick
- Autoindustrie steht vor grossen Herausforderungen
- Europäische Autobosse liessen sich vom Elektro-Hype anstecken, BMW blieb vorsichtig
- VW-Chef Herbert Diess plante einst 70 Prozent Elektroanteil bis 2030 in Produktion
Schadenfreude ist nicht gut. Und nachträgliche Besserwisserei ist ein noch schlechterer Wesenszug als Schadenfreude. Aber was, wenn die Dinge von Beginn an glasklar zu erkennen waren, sie aber kaum jemand – zumindest die Verantwortlichen auf allen Ebenen – einfach nicht wahrhaben wollten?
In genau dieser Situation befindet sich heute die europäische Autoindustrie. Das Elektroauto funktioniert noch nicht. Zumindest nicht so, wie von der Politik und zahllosen Organisationen verordnet und eigentlich auch von den Autobossen herbeigeplant. Die Panik geht inzwischen so weit, dass ein BMW-Vorstand eigene Autobahnspuren für Elektroautos und der Lobby-Verband der deutschen Hersteller gar für 2045 ein Verkaufsverbot für Benzin und Diesel fordert. Mal darüber nachgedacht, wie viel Vertrauensverlust solche Aussagen bei heutigen und künftigen Autokäufern bewirken können?
Alles auf Grün
Weniger als ein Jahrzehnt hat gereicht, um die letzte industrielle Kernkompetenz Europas an den Rand des Abgrunds zu führen. Rückblickend betrachtet war bei den Entscheidungen eine Menge Casino-Mentalität dabei: alles auf Grün. Wir erinnern uns: Vor einigen Jahren war es zu einer Art Mediensport der CEOs geworden, sich gegenseitig mit Vorhersagen in Sachen Verbrenner-Ende zu übertreffen. Die Transformation konnte gar nicht schnell und radikal genug vonstattengehen. Alle wollten als innovativ, zukunftsorientiert und 100 Prozent ökologisch gelten. Wollten strahlen wie Elon Musk (53) der Teslas Börsenwert in kürzester Zeit von praktisch null auf das Zehnfache (und mehr) von hundertjährigen Traditionsunternehmen aus der Autobranche – zum Beispiel Mercedes – getrieben hatte. Besonders hervor tat sich VW-Chef Herbert Diess (65), der zwischendurch das ursprüngliche Transformationstempo sogar verdoppelte – seine letzte Ansage lautete 70 Prozent Elektroanteil bis 2030 in der Produktion. Das war 2021. Ein Jahr später war Diess Geschichte im VW-Konzern. Unter anderem, weil sich schon damals abzeichnete, dass er Europas grössten Autohersteller viel zu einseitig aufgestellt hatte. Heute steht der Konzern vor der Situation, erstmals in seiner Geschichte über Werksschliessungen diskutieren zu müssen.
Was oft vergessen wird: Einen Autohersteller zu lenken ist ungefähr so anspruchsvoll wie einen Öltanker mit Volldampf durch einen Slalomparcours zu manövrieren. Innovationen und Modelle müssen entwickelt, Fabriken gebaut und angepasst werden. Das alles dauert jeweils mehrere Jahre, kurzfristig geht gar nichts. Dementsprechend wichtig ist es, mit seinen Visionen, Vorhersagen, Planungen weitsichtig umzugehen. Doch die europäischen Autobosse liessen sich allesamt – der eine mehr, der andere weniger – vom Elektro-Hype anstecken. Bloss BMW-Chef Oliver Zipse (60) wagte es, sich gegen den Mainstream aufzulehnen, forderte Technologieoffenheit ein und wurde dafür von Aktienanalysten und Journalisten belächelt oder gar verurteilt. Ironischerweise verfügt BMW heute nicht nur über flexiblere Fabriken als die Konkurrenz, sondern verkauft auch seine Elektromodelle erfolgreicher. Merke: Der bedächtige Lenker gewinnt den Öltanker-Slalom.
Fehleinschätzungen nur schwer erklärbar
Tatsächlich muss man sich fragen, was in den Vertriebsdepartementen der Hersteller damals gearbeitet wurde. Wurden Kundenanalysen durchgeführt oder pseudoreligiöse Ökomessen gelesen? Jedenfalls lassen sich die damaligen Fehleinschätzungen schwer erklären, wenn man ein wenig gesunden Menschenverstand voraussetzt. Für die meisten Menschen ist ein Auto nach dem Eigenheim die grösste Investition, deshalb muss die Kaufentscheidung oft unter streng pragmatischen Gesichtspunkten getroffen werden. Die lange herbeigesehnten, nun endlich erhältlichen «billigen» Elektroautos sind noch immer klar teurer als ein vergleichbarer Verbrenner – und das dürfte in absehbarer Zeit auch so bleiben. In den meisten europäischen Ländern erweisen sich die Strompreise als mindestens so volatil wie die Tankstellenpreise.
Die Praxis zeigt zudem, dass sich bei Wartung und Reparaturen trotz des tatsächlich weniger komplexen E-Antriebs kaum Geld sparen lässt. Das ist mit einer der Gründe, warum grosse Autovermieter ihre Elektroflotten deutlich reduziert haben. Schliesslich erwirbt man mit dem Elektroauto ein erhebliches Restwert-Risiko. Der Gebrauchtwagenmarkt ist derzeit voll mit den ersten Leasing-Rückläufern, für die es kaum Nachfrage gibt. Das liegt einerseits an den rasanten Fortschritten bei der Batterietechnologie, andererseits an begründeten Vorbehalten. Schliesslich könnte die Batterie eines E-Autos mit abgelaufener Garantie sich unversehens als defekt entpuppen. Zur Ehrenrettung sei allerdings erwähnt, dass man in den Occasionsbörsen Teslas mit 300’000 Kilometern und mehr findet. Wenn technisch nichts schiefläuft, kann ein gebrauchtes E-Auto also ein Schnäppchen sein.
Praktischer Nutzen statt Moralkeule
Trotzdem: Die Zukunft der Individualmobilität gehört dem Elektroantrieb. Allerdings darf das Tempo der Transformation nicht von ideologischen Befindlichkeiten abhängen, sondern muss eng mit der praktischen Umsetzbarkeit abgestimmt sein – dazu gehören ausreichend bemessene Stromnetze und Ladestationen sowie der Kundenwille. Der hängt noch immer vor allem von knallharten Kosten-Nutzen-Erwägungen ab.
Dass es eventuell doch mehr Zeit brauchen wird, als die Politik verordnen will, haben die meisten Hersteller längst erkannt. Aber es dauert eben, bis ein Öltanker sichtbar den Kurs ändert. Doch erste Anzeichen gibts. Ursprünglich als reine Elektromodelle angedachte Fahrzeuge wie den Fiat Grande Panda wird es jetzt auch in einer Verbrenner-Variante geben. Die Produktion des klassischen Fiat Panda – bis heute das meistverkaufte Auto Italiens – läuft entgegen den ursprünglichen Plänen bis 2028 weiter. Der VW-Konzern will zweistellige Milliarden-Beträge in ein «Modell-Feuerwerk» stecken, bei dem die hellsten Raketen wohl Verbrenner sein werden. Wenn wir raten dürfen, wird es vielleicht doch noch eine weitere Generation der bereits totgesagten Dauerbrenner Golf und Passat geben. Und auch Mercedes und Audi haben die Entwicklung von Verbrenner-Modellen wieder aufgenommen.
Nur: Der Neustart wird gar nicht so einfach. Denn ganze Generationen von Old-School-Ingenieuren wurden in den vorzeitigen Ruhestand versetzt, die Jüngeren auf Elektrotechnik umgeschult. Dabei ging enorm viel Know-how verloren. Folgerichtig kommen die neuesten Innovationen beim Verbrenner inzwischen aus – richtig! – China. Undogmatisch gedacht, wären Plug-in-Hybride mit mittlerer Reichweite eine perfekte Übergangstechnologie. Im Pendler-Radius fährt man mit Strom, auf Urlaubsreisen gibt der Verbrenner Reichweiten- und Betankungssicherheit.
Wenn wir einmal wirklich 100 Prozent des elektrischen Stroms aus erneuerbaren Energiequellen abdecken können, auch die hintersten Winkel mit leistungsstarken Netzen aufgerüstet sind und die Batterietechnologie heute noch unvorstellbare Preis- und Leistungslevel erreicht haben, werden wir alle ganz selbstverständlich Elektroauto fahren. Denn wie heisst die älteste Vertriebsweisheit überhaupt? Am Ende hat der Kunde immer recht. Und genau nach diesem Grundsatz wird der tatsächliche Abschied vom Verbrenner ablaufen.