Mercedes SL von 1963 und 2023
Da liegen Welten dazwischen

Die Pagode, der Mercedes 230 SL aus dem Jahre 1963, feiert seinen 60. Geburtstag. Aus diesem Anlass durfte ich als Praktikantin beim SonntagsBlick die kulturreiche Geschichte der Mercedes-SL-Baureihe im wahrsten Sinne des Wortes erfahren.
Publiziert: 23.07.2023 um 11:49 Uhr
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Aktualisiert: 27.07.2023 um 11:53 Uhr
Anlässlich des 60. Geburtstags des historischen Mercedes 230 SL macht SonntagsBlick-Praktikantin Kim Hüppin eine Ausfahrt mit dem Oldie und der aktuellen SL Generation.
Foto: Kim Hüppin
Kim Hüppin

Mit offenem Dach, Wind in den Haaren und der Sonne im Nacken mache ich mich im aktuellen Mercedes AMG SL 63 auf den Weg. Nach drei Stunden flotter Fahrt erreiche ich mein Ziel: das Mercedes-Museum im deutschen Stuttgart. Bei meiner Ankunft werde ich bereits von einer alten Schönheit erwartet. Anmutend steht er da im Licht der Morgensonne, der Mercedes 230 SL. «So, jetzt triffst du auf deinen 60 Jahre alten Bruder», sage ich schmunzelnd zu «meinem» SL und parke ihn direkt daneben.

Beim Aussteigen staune ich nicht schlecht, als ich auf Anhieb die Lebensstile der jeweiligen Epoche am Design der Autos erkenne. Modernste Digitaltechnik mit neuartig kaltem Design trifft auf solide Mechanik und pures Freiheitsgefühl ausdrückende Form der 60er-Jahre. Und schon begrüsst mich Peter Becker (41) vom Mercedes-Museum. Er ist Oldtimer-Liebhaber und fährt selbst einen SL aus dem Jahr 1993. Nach einer kurzen und interessanten Runde durchs Museum besprechen wir Tagesablauf bei einem Kaffee den: Wir starten gemeinsam zur Generationen-Tour durch die Weinberge rund um Stuttgart. Ich darf den alten 230 SL fahren, er fährt mit dem neuen AMG SL voraus.

Richtig fest aufs Gaspedal treten

Ausgerüstet mit Wasser, Sonnenhut und Funkgerät nehme ich auf den gepflegten roten Ledersitzen Platz. Mein Kopf muss sich nach den drei Stunden Anfahrt im hochmodernen Boliden mit Schaltautomatik und vielen elektronischen Helferlein erst mal 60 Jahre zurück orientieren. Ich muss vorsichtig kuppeln und schalten, vermute ich. Und Servolenkung gibts auch nicht. «Wenn du anfahren möchtest, musst du echt fest aufs Gaspedal treten. Unser Oldie nimmt das Gas nicht so spontan an – übertreib es also ruhig», erklärt mir Becker.

Also doch nicht so vorsichtig, denke ich mir. Doch das Anfahren klappt trotzdem erst beim dritten Mal. Nach einer ersten Einführungsrunde ums Museum gehts los. Obwohl ich immer davon geträumt habe, bin ich bislang noch nie am Steuer eines Oldtimers gesessen. Entsprechend nervös und vorsichtig tuckere ich meinem Vordermann hinterher. Als wir aus der Stadt raus sind, höre ich über Funk: «Du darfst ungeniert mal aufs Gas drücken. Das ist ein Sportwagen, meine Liebe.»

Das muss mir Becker nicht zweimal sagen. Mit Schwung gehts jetzt über die kurvigen Landstrassen. Ich werde nicht enttäuscht: Das Ruckeln und Knacksen der verbauten Holzelemente, der kernige Sound des Sechs-Zylinders und das grosse Lenkrad lassen mich kurze Zeit die Luft der 1960er-Jahre schnuppern. Ich hatte ja schon im neuen AMG SL mit belüfteten Sitzen und modernem Soundsystem ein Lächeln im Gesicht. Aber jetzt strahle ich über beide Ohren, als wir an unserem Stopp ankommen.

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Die berühmte Pagode, der Mercedes 230 SL aus dem Jahre 1963, feiert heuer den 60. Geburtstag.
Foto: Kim Hüppin

Mitten in den grünen Rebbergen nimmt mich Peter Becker mit ins Jahr 1963. Genauer gesagt in die Schweiz. Der Mercedes 230 SL wurde nämlich am Genfer Autosalon als Nachfolger des berühmten Flügeltürers 300 SL erstmals vorgestellt. Damit trat das zweisitzige Faltdach-Cabrio in grosse Spuren: Der 300 SL galt als schnellster Sportwagen seiner Zeit. Dieses Sportwagen-Gefühl sollte familientauglicher werden und so entstand die Baureihe W113 – also des 230 SL (1963 bis 1967), 250 SL (1967) und 280 SL (1968 bis 1971). Das war übrigens auch die erste Baureihe mit Knautschzone zur Unfallsicherung. Neben dem Cabrio gabs auch ein zusätzlich bestellbares, nach innen gewölbtes Hardtop-Dach. Diese einem asiatischen Tempel nachempfundene Form verhalf dem Modell zu seinem Spitznamen Pagode. Gegen Aufpreis liess sich damals die Roadster-Version mit Hardtop ohne Verdeck, dafür mit einer durchgehenden Rücksitzbank bestellen. Dieses California-Modell wurde von Mercedes als Sonderausführung angeboten. Insgesamt wurden 48'912 Exemplare der W113-Reihe gebaut.

Die Geschichte des Mercedes 230 SL
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Oldtimer von 1963:Die Geschichte des Mercedes 230 SL

60 Jahre Autobau sind eine Ewigkeit

Ein solch geschichtsträchtiges, 60 Jahre altes Auto fahren zu dürfen, weckt wunderbare Emotionen in mir. Spannend finde ich den Vergleich mit der aktuell neusten Generation derselben Serie. Elemente im aktuellen SL wie den Lamellen-Kühlergrill wurden von den frühen 300-SL-Rennwagen von 1952 inspiriert. Andere Merkmale wie die kantige Front oder das Stoffdach ziehen sich seit den Anfängen durch die gesamte SL-Reihe und wurden als Hommage im aktuellen Modell ebenso eingebracht.

Technisch sind die beiden SL natürlich kaum vergleichbar. 60 Jahre im Automobilbau sind eine Ewigkeit. Trotzdem einige Zahlen: Der aktuelle AMG SL spurtet mit seinem 585 PS starken 4,0-Liter-Achtzylinder in 3,6 Sekunden von 0 auf Tempo 100. Der historische 230 SL, mit seinem längs eingebauten und 150 PS starken 2,3-l-Sechszylinder sowie wahlweise Vier- oder Fünfgang-Schaltgetriebe, beschleunigt dagegen in beschaulicheren 11,1 Sekunden auf Tempo 100. Was zu jener Zeit allerdings sehr flott war. Auch der Sportwagen 300 SL benötigte für dieselbe Disziplin zehn Sekunden.

Technische Daten AMG SL und 230 SL

Mercedes AMG SL 63 4Matic+, 2023

Technik: 4,0-l-V8, 585 PS, 0–100 km/h in 3,6 s, 315 km/h Spitze, 9-Gang-Automatik, 13,2 l/100 km Verbrauch. Masse: 4,41 m lang, 1,78 m breit, 1,50 m hoch, 1970 kg Leergewicht. Preis: ab 220’100 Franken.

Mercedes 230 SL, 1963

Technik: 2,3-l-V6, 150 PS, 0–100 km/h in 11,1 s, 200 km/h Spitze, manuelle 5-Gang-Schaltung, 10,2 l/100 km Verbrauch. Masse: 4,28 m lang, 1,76 m breit, 1,32 m hoch, 1295 kg Leergewicht. Preis 1963: ab 10’130 Franken. Preis 2023: zwischen 150’000 und 300’000 Franken, je nach Zustand.

Mercedes AMG SL 63 4Matic+, 2023

Technik: 4,0-l-V8, 585 PS, 0–100 km/h in 3,6 s, 315 km/h Spitze, 9-Gang-Automatik, 13,2 l/100 km Verbrauch. Masse: 4,41 m lang, 1,78 m breit, 1,50 m hoch, 1970 kg Leergewicht. Preis: ab 220’100 Franken.

Mercedes 230 SL, 1963

Technik: 2,3-l-V6, 150 PS, 0–100 km/h in 11,1 s, 200 km/h Spitze, manuelle 5-Gang-Schaltung, 10,2 l/100 km Verbrauch. Masse: 4,28 m lang, 1,76 m breit, 1,32 m hoch, 1295 kg Leergewicht. Preis 1963: ab 10’130 Franken. Preis 2023: zwischen 150’000 und 300’000 Franken, je nach Zustand.

Was einem besser gefällt – der moderne, brachial beschleunigende Bolide oder der 60-jährige Sportwagen mit seinem Oldie-Charme – muss man für sich entscheiden. Am Abend, als wir wieder beim Mercedes-Museum ankommen, verabschiede ich mich mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Ich hätte mit dem faszinierenden Oldie noch stundenlang durch die Weinberge kurven können. Andererseits wurde es ohne Klimaanlage doch ziemlich heiss im offenen, alten Auto. Und so bin ich doch froh, kann ich jetzt die lange Heimfahrt im angenehm gekühlten SL antreten.

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