Die EU hat das gleiche Problem wie die Schweiz: zu wenig Impfstoff. Insgesamt hat Brüssel zwar zwei Milliarden Impfstoffdosen für die rund 448 Millionen Europäer bestellt – doch nur 300 Millionen bei Biontech/Pfizer, dem bislang einzigen Hersteller mit einer Zulassung in der EU. Und die auch erst im November, als die Mainzer Forscher den Impfstoff längst in der Pipeline hatten.
Zum Vergleich: Die USA bestellten die Impfstoffe Biontech/Pfizer und Moderna (in der EU noch nicht zugelassen) gleich im Sommer in grossen Mengen. Da war nämlich mit den ersten Ergebnissen der Phase-2-Studien klar, dass deren mRNA-basierte Impfstoffe als erstes fertig werden würden. Doch die EU trödelte und geizte offenbar. Setzte weiterhin auf den günstigeren Impfstoff von Astra Zeneca (in Grossbritannien zugelassen) und kaufte ausserdem kräftig beim französischen Konzern Sanofi sowie Johnson und Johnson ein.
Die Kritik am EU-Einkaufsdesaster ist heftig. Zu spät bestellt und aufs falsche Pferd gesetzt heisst es. In einem «Spiegel»-Interview werden auch die Biontech-Gründer deutlich: «Der Prozess in Europa lief aber sicherlich nicht so schnell und geradlinig ab wie mit anderen Ländern. Auch, weil die Europäische Union nicht direkt autorisiert ist, sondern die Staaten ein Mitspracherecht haben. In einer Verhandlungssituation, in der es einer starken Ansage bedarf, kann das Zeit kosten.»
Was lief schief und wer ist schuld? Wollte die EU einfach sparen – oder spielten andere Interessen eine Rolle? Eine «Bild»-Recherche will aufzeigen, dass Angela Merkel (65) und Ursula von der Leyen (62) die Hauptverantwortung tragen. Für den europäischen Weg sollen sie einen effektiven Weg gekillt haben. Ein Brief an EU-Chefin Ursula von der Leyen (62), der der Boulevardzeitung vorliegt, zeigt, wie das Einkaufsdesaster offenbar begann.
Die Ausgangslage
Der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn (40) und seine Amtskollegen Italien, Frankreich und den Niederlanden haben bis Juni gemeinsam verhandelt. Bis dahin lief offenbar alles glatt.
Der Brief
Im Juni übertrugen die vier Gesundheitsminister die Zuständigkeit für die Impfstoff-Bestellung auf die EU-Kommission. In ihrem Brief an EU-Chefin Ursula von der Leyen heisst es: «Leider haben die zeitgleichen Verhandlungen unserer Allianz Sorgen verursacht. Deswegen glauben wir daran, dass es von herausragender Wichtigkeit ist, einen gemeinsamen Ansatz gegenüber den verschiedenen Pharmakonzernen zu verfolgen. (…) Wir sind uns einig, dass Geschwindigkeit von entscheidender Bedeutung ist. Deswegen halten wir es für sinnvoll, wenn die Kommission die Führung in diesem Prozess übernimmt. Natürlich bieten wir weiter unsere Unterstützung und Expertise an.»
Wie kam es zu dem Brief?
Laut «Bild» wurden die vier Gesundheitsminister von ihren jeweiligen Regierungschefs dazu gedrängt, die Kompetenz an Brüssel abzugeben. Besonders Kanzlerin Angela Merkel (65) soll auf den europäischen Weg gepocht haben – Deutschland übernahm im Juli den Ratsvorsitz. Ihre Vertraute Ursula von der Leyen steht an der Spitze der EU-Kommission und wollte offenbar gerne das Zepter in die Hand nehmen.
Wäre es anders gelaufen, wenn Brüssel nicht übernommen hätte?
Unklar. Die «Bild» schreibt, die vier Minister hätten schon damals, im Juni 2020, «massive Zweifel» daran gehabt, «dass die EU in der Lage ist, rechtzeitig genug Impfstoff zu beschaffen». Allerdings schreiben die vier Gesundheitsminister ausdrücklich, dass sie «noch keine Verhandlungen über die Bezahlung des Astra-Zeneca-Impfstoffes» gestartet hätten: «Wir würden es sehr begrüssen, wenn die Kommission diese Verhandlungen übernehmen würde.» Genau dieser Empfehlung ist Brüssel offenbar gefolgt. Und hat zeitgleich die Bestellungen bei Biontech/Pfizer und Moderna verpennt. Der Rest ist Geschichte.
SPD macht CDU und EU Vorwürfe
Der Zoff um die Impfstoffbestellung entzweit die Grosse Koalition in Deutschland. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil äusserte gegenüber der ARD am Montag deutliche Kritik am europäischen Weg: «Europa muss ja nicht automatisch langsamer bedeuten.» Man sehe jetzt «chaotische Zustände». Klingbeil verwies auf Äusserungen des Biontech-Chefs Ugur Sahin, wonach dessen Unternehmen der EU-Kommission mehr Impfstoffdosen angeboten habe. Dies sei jedoch abgelehnt worden, «weil die Osteuropäer skeptisch sind und die Franzosen das nicht wollten». Vizekanzler Olaf Scholz (62, SPD) legte Gesundheitsminister Jens Spahn (40, CDU) laut «Bild»-Bericht einen vier Seiten langen Fragen-Katalog zum Impfversagen der Bundesregierung und der EU hin.
Lauterbach: «Das Hauptproblem ist Geld»
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach (57) hält wenig von gegenseitigen Schuldvorwürfen. «Die Entscheidung über die EU zu bestellen ist nicht falsch», sagte Karl Lauterbach bei «Bild Live». «Es ist allerdings anders bestellt worden, als optimal gewesen wäre.»
Das Hauptproblem laut Lauterbach: zu wenig Geld! «Die EU hatte nur zwei Milliarden Euro für die Vorbestellung zur Verfügung. Das war viel zu wenig. In Amerika sind mehr als 12 Milliarden Dollar zur Verfügung gewesen. Wäre mehr Geld zur Verfügung gewesen, hätte man mehr einkaufen und produzieren können.»
Wie man das Impf-Problem jetzt löst
Lauterbachs Drei-Punkte-Plan aus dem Impf-Desaster: Schnellstmöglich den Astra-Zeneca-Impfstoff zulassen – eventuell per Notfallzulassung. Die Zweitdosis beim Biontech-Impfstoff möglicherweise verschieben, um schneller mehr Menschen die erste Dosis geben zu können.
Und drittens: Dafür sorgen, dass mehr produziert wird. Er wundere sich vor allem, dass es keine Produktionsstätten für den Moderna-Impfstoff gäbe, der einfacher zu lagern und zu verabreichen sei als der von Biontech/Pfizer.