«Ich mache mir keine Gedanken, wo der Feind steckt»
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Wolodimir Selenski zu «Bild»:«Ich mache mir keine Gedanken, wo der Feind steckt»

Wolodimir Selenski (44) im Interview
«Wir sterben auch für euch!»

Er ist der Held der Stunde: Präsident Selenski (44). Seit zwei Wochen macht er sich für sein Land stark und wehrt sich vehement gegen die russische Invasion. In einem Interview mit der «Bild» erklärt er, dass man zu Kompromissen bereit sei – unter Vorbehalten.
Publiziert: 11.03.2022 um 00:04 Uhr
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Aktualisiert: 11.03.2022 um 08:46 Uhr
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Selenski traf sich mit «Bild»-Vize Paul Ronzheimer zu einem exklusiven Interview.
Foto: BILD
Interview: Paul Ronzheimer («Bild») aus Kiew

Seit über zwei Wochen blickt die ganze Welt auf die Ukraine. Die Situation spitzt sich zunehmend zu, mit jedem Tag wird der Krieg blutiger. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) gilt seit dem russischen Einmarsch als Held der Nation. Mit Inbrunst kämpft er für sein Land und die Freiheit seiner Bürgerinnen und Bürger. «Bild»-Vize Paul Ronzheimer konnte Selenski in Kiew für ein Interview treffen. In Absprache mit der «Bild»-Zeitung hat Blick das Interview übernommen.

Herr Präsident, die Menschen in Deutschland fragen sich: Wie halten Sie das durch, schlafen Sie jemals?
Wolodimir Selenski: In allen eingenommenen Bereichen des Landes und auch da, wo immer noch unsere gelb-blaue Fahne weht, schlafen Menschen wenig. Wir verteidigen unser Land schon seit zwei Wochen.

Wir sehen zahlreiche Videos Ihrer Frau und Ihrer Familie. Sie stehen auf Moskaus Todesliste. Was macht das mit Ihrer Familie?
Sie sind stolz auf mich. Sie sind stolz, dass wir Ukrainer sind. Sie verstehen, dass ich schon längst geflüchtet sein oder in Sicherheit sein könnte. Aber sie verstehen mich und unterstützen meine Entscheidung. Weil es eine Entscheidung für unser Land ist. Sie wollen, dass Kiew stark bleibt. Als Menschen machen sie sich natürlich Sorgen um mich, im Herzen sind sie aber immer bei mir.

Es ist die Geschichte unseres Landes, und wir leben nun einmal in diesem Moment. Später werden wir uns daran erinnern, wie schwer diese Zeit war und wie schlecht es jedem einzelnen Menschen in unserem Land ging. Aber: Wir werden uns viel mehr an die Momente erinnern, in denen wir etwas verändert haben. Unser Ziel ist die Stärkung unseres Landes, egal wie schwer es wird. Ich mache das für meine Kinder und meine Enkelkinder. Ich möchte kein Schwächling sein.

Die Welt fragt sich, wie nah die Russen sind – Tage, Stunden vielleicht von Kiew entfernt. Wie ist Kiew eingekreist? Wie weit sind Sie selbst, Herr Präsident, eingekreist?
Ach, ich?! Die Zufahrtsstrassen nach Kiew sind blockiert. Aber wir sind ja hier. Und die Situation in Kiew können Sie ja persönlich einschätzen, Herr Ronzheimer.

Ich mache mir keine Gedanken, wo sich der Feind versteckt. Oder wie nah er uns gekommen ist. Ich mache mir Gedanken um unser Land, über die Wasserversorgung, über die Nahrungsversorgung. Über Mariupol, Donezk, das Saporischschja-Gebiet, Melitopol, Wolnowacha, Charkiw – die furchtbare Situation dort. Die Menschen sind ohne Wasser und Nahrung. Was jetzt in Mariupol passiert, ist eine humanitäre Katastrophe. Aus verschiedenen Städten unseres Landes wurden die Kolonnen mit humanitärer Hilfe geschickt. Aber sie werden beschossen, die russischen Soldaten lassen sie nicht durch. Wir haben sehr tapfere Fahrer, die trotz Beschuss weitermachen.

Gestern haben wir uns auf eine Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz geeinigt. Ich verstehe, dass wir uns als Menschen immer um das eigene Leben sorgen. Trotzdem müssen wir die humanitäre Hilfe an erste Stelle stellen. Wir haben hier keine universellen Lösungen oder Schritte, die wir jetzt vornehmen können. Wir haben realen Terror in unserer Geschichte.

Ich habe Angst, das Kiew umschlossen wird. Haben Sie keine Angst?
Ich habe keine Angst. Wovor auch? Ich darf keine Angst haben, ich bleibe ruhig. Wissen Sie, wie jemand seine Angst überwinden kann? Was kann schlimmer sein als Angst? Was ist das Schlimmste, das passieren könnte? Mit ihrem Land, mit meinem Land? Das Schlimmste, was passieren könnte, ist schon passiert. Wir haben einen Krieg, Russland gegen die Ukraine. So viele Menschen sind schon gefallen. Das Land wurde zerstört. Was könnte Schlimmeres passieren für die Menschen, die ihre Kinder verloren haben? Aber wir glauben an die Zukunft. Wir werden nicht aufgeben, wir werden unser Land nicht verkaufen.

Deutschland ist immer noch gegen ein Embargo für Öl- und Gas-Importe aus Russland. Sind Sie enttäuscht von Kanzler Olaf Scholz und vom deutschen Volk, dass Sie nicht mehr unterstützt?
Ich kann die Handlungen von Deutschland nicht beurteilen. Die Regierung denkt in erster Linie an ihr eigenes Land – und das ist auch selbstverständlich. Viele Menschen in Deutschland unterstützen die Ukraine. Die Regierung des Bundeskanzlers wurde von den Menschen gewählt und ich denke, da müssen wir uns zurückhalten. Wir sehen ja einige Schritte, mit denen uns Deutschland unterstützt – Nord Stream 2, Sanktionen und so weiter. Wir sehen, was Deutschland macht.

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Ich möchte Herrn Scholz und seine Regierung nicht beurteilen. Das werde ich im Nachhinein machen, wenn wir Ergebnisse dieser Zeit sehen und sehen, wie der Krieg ausgeht, wie viele Opfer es gibt. Für uns ist jede Minute wertvoll, in jeder Minute können Menschen sterben.

Ich habe gerade die Nachricht bekommen, dass die Kinderklinik in Mariupol angegriffen wurde. Noch habe ich keine Informationen über Opfer. Aber ich hoffe sehr, dass die Menschen sich verstecken konnten. Wie kann so etwas sein? Das sind Tiere, die so etwas veranlassen. Was geht in deren Köpfen vor? Wenn eine Rakete eine Kinderklinik in Deutschland treffen würde, was dann? Stellen Sie sich mal uns in Ihrer Situation vor – man würde besprechen und verhandeln. Das ist unser Schmerz HEUTE, und ich brauche die Lösung HEUTE.

Wie ist es mit der Mitgliedschaft in der EU?
Die Regierungen, die unsere Mitgliedschaft in der EU nicht unterstützen, weisen auf Reformen hin, die noch passieren müssen. Sie betrachten uns nicht als gleichwertig. Da habe ich noch sehr viele offene Fragen.

Viele Menschen klagen über die hohen Gas- und Ölpreise. Warum ist es dennoch wichtig, dass wir russisches Gas und Öl boykottieren?
Wissen Sie, es gibt so bestimmte Werte, die man sehr schwer erklären kann, bis man im eigenen Land einen Krieg hat. Dann denkst du nicht mehr an die Reformen. Du denkst nicht, dass du etwas kaufen möchtest oder an Regulierungen. Nicht an Preiserhöhungen auf Gas oder Strom. Du denkst nicht mehr daran, dass du sparen willst, um in den Urlaub zu fahren. Du denkst nicht mehr daran, dass die Steuern sich jedes Jahr erhöhen. All das rückt in den Hintergrund, wenn der Krieg ausbricht, es hat gar keine Priorität.

Das ist nicht der wahre Wert des Lebens. Der wahre Wert des Lebens ist, dass du lebst, dass du nicht ermordet wirst. Und das muss Europa tun: das einfache Leben verteidigen und auch die wahren Werte auf den ersten Platz stellen. Ich wünsche Ihnen, dass ihre Prioritäten im Leben die wahren Werte bleiben. Das, was jetzt bei uns passiert, das könnte auch Ihnen passieren. Und das ist mir ganz wichtig: Wir sterben auch für euch.

Was sagen Sie zu der Forderung, die Unabhängigkeit des Donbass zu akzeptieren und zu akzeptieren, dass die Krim zu Russland geht? Was sind Sie bereit, für den Frieden herzugeben?
Hier ist ja nicht die Frage, was ich geben kann. In jeder Verhandlung ist mein Ziel, den Krieg mit Russland zu beenden. Und ich bin auch bereit zu bestimmten Schritten.

Man kann Kompromisse eingehen, aber diese dürfen nicht der Verrat meines Landes sein. Und auch die Gegenseite muss zu Kompromissen bereit sein – deswegen heissen sie ja Kompromisse. Nur so kommen wir aus dieser Situation heraus. Über die Details können wir noch nicht reden. Wir haben ja noch keinen direkten Kontakt zwischen den Präsidenten gehabt. Nur nach den direkten Gesprächen zwischen den zwei Präsidenten können wir diesen Krieg beenden.

Was antworten Sie Ihren Kindern, wenn sie sagen: Papa, wir müssen raus aus der Ukraine?
Meine Kinder sagen, ich soll hierbleiben. Sie sollen ihre wunderschöne Zeit der Kindheit aber auch nicht dafür verschwenden, um ihren Vater zu überzeugen, das eigene Land zu verlassen.

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