Immer wieder haben es Orcas nahe Gibraltar auf Luxusyachten und Segelboote abgesehen. Seit 2020 gab es gemäss der Atlantic Orca Working Group 673 Vorfälle zwischen den Meeresbewohnern und Wasserfahrzeugen. Mindestens vier Boote sind aufgrund dieser «Interaktionen», wie sie Forscher nennen, gesunken.
Der jüngste Vorfall ereignete sich Mitte Mai. Die zwei Besatzungsmitglieder der 15-Meter-Yacht «Alborán Cognac» nahmen etwa 26 Kilometer vor Kap Spartel in Marokko am südlichen Eingang zur Strasse von Gibraltar dumpfe Schläge gegen den Rumpf wahr, welche von Orcas verursacht wurden. Dadurch wurde das Ruderblatt beschädigt. Als anschliessend Wasser in das Boot eindrang, setzten die Segler einen Notruf ab. Nach rund einer Stunde wurden sie von einem Tanker gerettet. Die Yacht versank kurze Zeit später im Atlantik.
In den sozialen Medien wird seit Jahren gescherzt, es handle sich bei derartigen «Angriffen» um antikapitalistische Orcas, die es auf Reiche abgesehen hätten. Natürlich ist dies Unsinn. Forscher standen dennoch lange vor einem Rätsel – welches nun gelöst wurde.
Orcas haben mehr Freizeit
Grund für die Vorfälle sei gemäss einem Team aus Biologen, Regierungsbeamten und Vertretern der Meeresindustrie, dass die Orcas die «Angriffe» als Spiel sehen. Wie «New Atlas» berichtet, vertreibe sich eine bestimmte Orca-Gruppe mit dem Rammen von Booten seine Freizeit. Davon habe die Gruppe von rund 40 Tieren seit ein paar Jahren mehr als genug.
Die Population des Roten Thunfischs, von welchem sich die Orcas unter anderem ernähren, hat sich in der Region in den vergangenen Jahren erholt. Somit fliesst weniger Zeit in die Nahrungssuche. «Ausserdem könnte der Klimawandel eine Rolle spielen, der dazu führt, dass diese Thunfische nicht nur saisonal, sondern dauerhaft im Golf von Cádiz sind», stellten die Wissenschaftler fest. «Dieser ganzjährige Überfluss bedeutet, dass die Wale anscheinend nicht mehr jedem Fisch nachjagen müssen, den sie finden.»
Jungtiere haben vermutlich angefangen
Die Wissenschaftler stellten weiter fest, dass die «Angriffe» nur von rund 15 Tieren durchgeführt werden. Die meisten seien männliche Jungtiere und Teenager, welche die «neugierigsten und experimentierfreudigsten» Mitglieder einer Orca-Population bilden. Über 25-jährige, also ausgewachsene, Orcas seien an den Ramm-Aktionen nicht beteiligt. Die Wissenschaftler vermuten deshalb, dass junge Orcas mit dem Spiel anfingen und ihre Geschwister sie nachahmten. «Orcas spielen bekanntermassen mit anderen Objekten oder Tieren in ihrer Umgebung, bis sie diese beschädigen», so die Wissenschaftler weiter. «Also scheint das Verhalten in dieses Spektrum zu fallen.»
Bereits 2017 sei beobachtet worden, dass Orcas Boote anstossen. Nur gab es damals keine Schäden. Was als friedliches Spiel begann, eskalierte dann, als die Tiere grösser und kraftvoller wurden.
«Interaktionen sind nicht aggressiv»
Verschiedene Orca-Populationen hätten zudem unterschiedliche Ernährungsspezialisierungen. Dadurch entstünden «dauerhafte Verhaltenstraditionen, die mit ihrer unterschiedlichen Nahrungssuche zusammenhängen», erklären die Forscher. «Einige Populationen entwickeln möglicherweise auch ungewöhnliche und vorübergehende Verhaltensmoden und andere Eigenheiten, die keinem offensichtlichen Anpassungszweck zu dienen scheinen.» Die Interaktionen mit den Booten könnten solchen «kurzlebigen Traditionen» unterliegen.
Die Forscher weisen deshalb darauf hin, dass die Interaktionen zwischen den Tieren und Schiffen «nicht aggressiv sind». Vielmehr hätten sie den Charakter von «Launenverhalten oder Spiel und Geselligkeit». «Die Verwendung von Begriffen wie ‹Angriff› ist daher unangemessen, irreführend und sollte eingestellt werden.»