Lukaschenko (66) greift durch. Mehr als 120 Menschen liess er allein bei der Solidaritätsdemo für die verhaftete Oppositionelle Maria Kolesnikowa (38) am Dienstagabend festnehmen. Bilder und Videos zeigen, wie maskierte Einsatzkräfte Menschen teils brutal festnehmen, die Gruppen auseinandertreiben. Seine Gegner lässt der Diktator systematisch bespitzeln, verfolgen, verschleppen.
«Da, es klingelt schon wieder jemand an der Tür ...», schreibt die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch (72) in einer Stellungnahme. Als einzige von den sieben Präsidiumsmitgliedern des Koordinierungsrates der Demokratiebewegung ist sie noch auf freiem Fuss und in Belarus – alle anderen wurden festgenommen oder zur Ausreise gedrängt.
Die Fäden in der Hand hält offenbar Wladimir Putin (67). «Vom russischen Sicherheitsdienst entsandte Berater raten dem belarusischen Führer, die Protestbewegung durch eine Kombination aus Massenunterdrückung und spezifischen Drohungen gegen Oppositionsführer zu demobilisieren», schreiben die Experten Michael Carpenter und Vlad Kobets in einem Artikel für «Foreign Policy».
Putins hat aus dem Ukraine-Desaster gelernt
Dazu gehörten etwa Drohungen, dass ihre Kinder weggebracht und in Waisenhäuser geschickt würden. Zudem arbeitet Moskau offenbar gemeinsam mit Lukaschenko an einer Spaltung der Protestbewegung «zwischen östlichen und westlichen Belarusen, Arbeitern und Intellektuellen, Katholiken und orthodoxen Christen». Russische Fernsehmoderatoren verbreiteten Propaganda, dass hinter den historischen Protesten in Wahrheit ausländische Kräfte steckten.
Putins Ziel für Belarus: eine Art «Soft-Annexion». Er hat aus dem Desaster in der Ukraine gelernt. Statt seine Soldaten loszuschicken und mit Gewalt und Härte aufzutreten, sichert er sich über das Hintertürchen Macht. Heisst: wirtschaftliche Integration, eine gemeinsame Währung – und schliesslich politische Integration durch eine gemeinsame Aussen- und Verteidigungspolitik. Und am Ende? Steht ein Unionsstaat, der «de facto die Aufnahme von Belarus in Russland bedeuten würde», wie Carpenter und Kobets schreiben.
Der Unionsstaat ist schon unterschrieben
Belarus-Diktator Lukaschenko hat bereits mit Putins Vorgänger Boris Jelzin (1931–2007) einen Vertrag über die Errichtung eines gemeinsamen «Unionsstaates» geschlossen. Doch der vor mehr als 20 Jahren geschlossene Vertrag verschwand mehr oder weniger in der Schublade. Denn Jelzins Nachfolger an der Spitze von Russland, Wladimir Putin, hatte erstmal nur bedingt Interesse an einer engen Zusammenarbeit mit dem isolierten Lukaschenko – der belarusische Diktator wiederum hat erkannt, dass er nur Juniorpartner wäre.
Doch Stillstand ohne Einfluss ist nicht in Putins Sinn. Er setzte auf wirtschaftliche Zermürbung, strich Belarus Öl-Subventionen und schränkte die Agrarexporte nach Russland ein. Die Botschaft: Minsk braucht Moskau aus wirtschaftlichen Gründen.
«Jetzt, unter dem Deckmantel der gegenwärtigen politischen Krise, schickt Moskau zusätzlich zu Geheimdienstmitarbeitern, Cyber-Operatoren, Medienberatern, Propagandisten und Sicherheitsberatern Flugzeugladungen von ‹politischen Technologen› nach Belarus», schreiben die Experten Carpenter und Kobets. Statt Soldaten also Strategen. «Ihre Spezialität ist die politische Kriegsführung. Ihre unmittelbare Aufgabe besteht darin, den Grundstein für eine sanfte Annexion zu legen.»
Neuwahlen ja – aber nur zu Moskaus Bedingungen
Während Lukaschenko die Demo-Teilnehmer, die seit der manipulierten Präsidentschaftswahl am 9. August auf die Strasse gehen, als «Ratten» beschimpft, hält sich sein Verbündeter Putin öffentlich zurück. Zwar gratulierte er Lukaschenko zur Wahl, bezeichnete die Abstimmung – bei der der Diktator angeblich 80,1 Prozent der Stimmen enthielt – als «nicht ideal».
Nach einem Gespräch zwischen dem Belarus-Diktator und dem Kreml sagte Putin: Lukaschenko sei «bereit, die Möglichkeit einer Verfassungsreform, die Annahme einer neuen Verfassung und die Organisation von Neuwahlen – sowohl Parlaments- als auch Präsidentschaftswahlen – auf der Grundlage dieser neuen Verfassung in Erwägung zu ziehen». Lukaschenko wiederum kündigte im gleichen Zeitraum an, für Gespräche bereit zu sein – allerdings nicht mit der Demokratiebewegung.
Die Botschaften aus Moskau und Minsk bedeuten vor allem eins: Verfassungsänderungen und Neuwahlen werden kommen – allerdings zu Putins Bedingungen. Experten vermuten, dass Verfassungsänderungen vor allem den Weg für eine stärkere wirtschaftliche Integration mit Russland eben werden. Lockert sich die Lukaschenko-Diktatur mit Putins Unterstützung, steckt dahinter Kalkül.
Die Opposition steht vor einem Dilemma
Eine erweiterte Rolle des Parlaments zum Beispiel würde dem Volk angeblich Macht verleihen – in der Praxis aber den vom Kreml unterstützten «Marionetten-Parteien» ermöglichen, grösseren Einfluss auszuüben. Damit macht sich der Kreml unabhängig von einem möglicherweise unabhängigeren Lukaschenko-Nachfolger.
Beim Versprechen für Neuwahlen ist es ähnlich: Das Zugeständnis an die Protestbewegung ist ein trojanisches Pferd. In erster Linie gewinne Moskau Zeit, um kremlfreundliche Kandidaten auf ihre Kandidatur für das Amt zu prüfen.
Für die durch die Verhaftungen und Drohungen geschwächte Demokratiebewegung in Belarus ist das ein Dilemma. Sie hat eigentlich kein Interesse, mit Moskau zu brechen. «Uns verbinden Handelsbeziehungen und gegenwärtig können wir uns nicht von Russland abwenden. Das wird immer unser Nachbar bleiben, und wir müssen ein gutes Verhältnis haben», sagte die belarusische Oppositionelle Swetlana Tichanowskaja (37) am Mittwoch bei einem Wirtschaftsforum im niederschlesischen Karpacz.
Tichanowskaja sagte weiter, sie bitte jedes Land, «darunter auch Russland», die Souveränität von Belarus zu achten. Putin könnte nicht weniger im Sinn haben – egal, ob Lukaschenko an der Macht bleibt oder nicht.
Ein Land, viele Namen: Seit 1991 trägt die ehemalige Weissrussische Sozialistische Sowjetrepublik die offizielle Bezeichnung Republik Belarus. Die Verwendung dieses Namens soll dem Missverständnis entgegenwirken, wonach das Land bloss ein Teil Russlands sei. Im deutschen Sprachraum setzt sich diese Bezeichnung aber erst langsam durch. Das Schweizer Aussenministerium schreibt jedoch konsequent «Belarus» und «belarusisch» – mit einem s. Auch bei den Flaggen herrscht Verwirrung: Die Demonstranten verwenden die alte weiss-rot-weisse Belarus-Fahne als Erkennungszeichen. Pro-Lukaschenko-Leute benutzen die offizielle rot-grüne Flagge.
Ein Land, viele Namen: Seit 1991 trägt die ehemalige Weissrussische Sozialistische Sowjetrepublik die offizielle Bezeichnung Republik Belarus. Die Verwendung dieses Namens soll dem Missverständnis entgegenwirken, wonach das Land bloss ein Teil Russlands sei. Im deutschen Sprachraum setzt sich diese Bezeichnung aber erst langsam durch. Das Schweizer Aussenministerium schreibt jedoch konsequent «Belarus» und «belarusisch» – mit einem s. Auch bei den Flaggen herrscht Verwirrung: Die Demonstranten verwenden die alte weiss-rot-weisse Belarus-Fahne als Erkennungszeichen. Pro-Lukaschenko-Leute benutzen die offizielle rot-grüne Flagge.