Die ukrainische Gegenoffensive kommt langsam ins Rollen. Erfolge konnten vor allem am Schwarzen Meer verbucht werden. Dies ist insofern überraschend, als die ukrainische Marine zu Beginn der russischen Invasion nicht als bedeutende Kraft angesehen wurde.
Die Ukraine liess ihr Flaggschiff kurzerhand versenken, damit das Schiff nicht den russischen Streitkräften in die Hände fällt. In Odessa war der Hafenbetrieb eingestellt worden, weil die feindlichen Kriegsschiffe bereits aus weiter Ferne ausgemacht werden konnten. Die Kräfteverhältnisse schienen klar verteilt.
Mehr zum Ukraine-Krieg
Doch jetzt die Wende: Durch innovative Marinedrohnen und -Raketen, die russische Schiffe in ihren Heimatstützpunkten angreifen, konnte die Ukraine den massiven Flottenvorteil Russlands weitgehend aushöhlen, schreibt das «Wall Street Journal» (WSJ). Russische Schiffe wagen sich demnach nicht mehr in den nordwestlichen Teil des Schwarzen Meeres.
U-Boot und Landungsschiff ausser Gefecht gesetzt
«Um unsere Sicherheit jetzt und in Zukunft zu gewährleisten, müssen wir die Verteidigung unserer Küsten an der Küste des Feindes beginnen», sagte der Kommandeur der ukrainischen Marine, Oleksij Nejischpapa, in einem Interview. Diesen Ansatz wollen er und seine Leute jetzt nach und nach umsetzen. Vor allem von den Drohnen verspricht sich Nejischpapa grossen Erfolg.
Der ukrainischen Marine gelang vergangene Woche Angriffe auf die russischen Heimathäfen Sewastopol und Noworossijsk. Der Raketenangriff auf ein Trockendock in Sewastopol zerstörte ein grosses russisches U-Boot sowie ein grosses Landungsschiff, das Russland in Odessa einsetzen wollte. Noworossijsk gilt als wichtiges Tor für den Öl-Export. An der Westküste der Krim wurden russische Luftabwehrsysteme zerstört.
Seit Juli befindet sich der Kampf um das Schwarze Meer in einer neuen Phase: Damals hatte Russland eine Vereinbarung gekündigt, die es der Ukraine erlaubt hatte, Lebensmittel mit von Russland inspizierten Schiffen zu exportieren. Die Ukraine reagierte mit Marinedrohnen.
Luftwaffe sorgt für zusätzlichen Schub
Mit mehreren Arten von Langstreckenraketen ergeben sich zudem neue Offensivmöglichkeiten, sagen Militärexperten. Neben der Marine sind auch die ukrainische Luftwaffe und Spezialeinheiten der Geheimdienste in Kiews Rückeroberung um das Schwarze Meer eingebunden.
Nejischpapa sagte, dass seine Kräfte keinerlei Interesse hätten, die zivile Schifffahrt zu beeinträchtigen. Er fügte jedoch hinzu, dass das Abkommen von San Remo aus dem Jahr 1994 über internationales Recht in Bezug auf Seekriegsführung es seinen Streitkräften erlaubt, Handelsschiffe ins Visier zu nehmen, die als Unterstützung für russische Militäraktionen angesehen werden.
Einseitiger Korridor von und nach Odessa
Nach dem Scheitern des Abkommens hat das ukrainische Militär im August einen einseitigen Korridor von und nach Odessa angekündigt. So konnten in den vergangenen Tagen bereits sechs Schiffe den Hafen verlassen. Das ukrainische Potenzial, russische Häfen zu attackieren, haben diese Entwicklung laut Analysten des «WSJ» möglich gemacht.
«Es ist klar, dass die Russen nicht mehr die Initiative im Schwarzen Meer haben, weil die ukrainische Marine und die ukrainischen Sondereinsatzkräfte ein offen gesagt geniales Konzept verfolgen», sagt Michael Petersen, Gründungsdirektor des Russia Maritime Studies Institute am U.S. Naval War College. Diese taktischen Erfolge beginnen, sich zu einer grösseren Strategie zu formen, erklärt Petersen.
Russland befinde sich derweil in einer verwundbaren Situation. Weil die Türkei die Meerenge zwischen dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer kontrolliert und im Februar 2022 die Durchfahrt für kriegsführende Schiffe gesperrt hat, kann Russland seine Verluste dort nicht mit Schiffen einer anderen Flotte auffüllen. (ene)