Die russische Offensive in der Ukraine schreitet seit vier Monaten voran – langsam, zerstörerisch, tödlich. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Denn Kreml-Chef Wladimir Putin (69) spielt auf Zeit: Die russische Armee legt in der Ukraine derzeit eine «operative Pause» ein. Damit sollen weitere Angriffe vorbereitet werden.
Hierbei handelt es sich nicht um eine neue Taktik. Schon früh wurde von einem Zermürbungskrieg gesprochen, um die Ukrainer von westlichen Waffenlieferungen abhängig zu machen – die nur begrenzt kommen.
Auch Dominik Knill (63), Präsident der Schweizerischen Offiziersgesellschaft, stellt im Gespräch mit Blick klar: «Die Munition geht der Ukraine aus. Sie kann kaum noch produziert werden und der Westen hat seine Lager bereits geleert.»
Energieknappheit soll den Westen brechen
Und während Moskau versucht, ein Kriegsende herauszuzögern, pocht die Ukraine darauf, dem ganzen noch vor dem Winter ein Ende zu setzen. Und das mit gutem Grund: Europa ist noch weit davon entfernt, sich von russischer Energie zu entwöhnen, und ein schmerzhafter Winter mit noch höheren Gaspreisen wird den Europäern wohl die wahren Kosten der Unterstützung der Ukraine in diesem Konflikt vor Augen führen – das scheint Putin zumindest zu hoffen.
«Putin rechnet damit, dass die Energieknappheit mitten im Winter die noch bestehende Einigkeit im Westen brechen wird», erklärt Marco Steenbergen (59), Politikwissenschaftler an der Universität Zürich, gegenüber Blick. Dem sei sich auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) schmerzlich bewusst.
Knill ergänzt: «Die Ukraine ist sich sehr wohl bewusst, dass der grossen Solidarität im Westen Europas eine Zerreissprobe bevorsteht. Es gibt Anzeichen der Kriegsmüdigkeit in Europa.» Ein weiterer Grund, den Krieg – zumindest aus westlicher und ukrainischer Sicht – so schnell wie möglich zu beenden.
«Die Waffen und Munitionslager der westlichen Länder werden knapp»
Trotzdem zögert der Westen und spielt den Ball somit direkt in die Hände Russlands. «Das Zögern ist sicherlich zu Putins Vorteil. Aber der Westen muss auf Nummer sichergehen, denn niemand will diesen Konflikt unnötig eskalieren lassen», so Steenbergen. «Dass ehemalige Generäle im russischen Fernsehen die Möglichkeit der Bombardierung Londons oder Rotterdams diskutieren, ist vielleicht nur eine Übertreibung, aber in solchen Dingen muss man vorsichtig sein.»
Knill erklärt die eher passive Rolle des Westens mit folgendem Bild: «Er (der Westen) steht wie ein Trainer am Spielrand, schreit den Spielern zu, motiviert sie mit Ratschlägen und hofft, so den Gegner bezwingen zu können, ohne selber mit den Ersatzspielern aufs Spielfeld rennen zu müssen.»
Und langsam aber sicher müsse Europa auch an seine eigene Sicherheit denken, erklärt der Oberst. «Die Waffen und Munitionslager der westlichen Länder werden knapp und je länger der Krieg dauert, werden sie für die Verteidigung des eigenen Nationalstaats benötigt.» Spätestens hier räche sich der pazifistische Leitgedanke der letzten 25 Jahre. Knill zu Blick: «Es wäre politischer Selbstmord, die Bedrohung der eigenen Existenz nicht ernst zu nehmen.»
Russland ist immer noch eine Atommacht
Seien es Atomdrohungen, gestoppte Getreidelieferungen oder ein kalter Winter ohne Gas – die Drohgebärden haben den beabsichtigten Effekt: Sie lassen Moskaus Gegner zögern. Die allgegenwärtige Vorstellung, dass eine Provokation Russlands katastrophale Folgen haben würde, ist ein wichtiger Sieg für Putin.
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Doch wie lange kann der Kreml-Chef dieses Droh-Spiel noch treiben? «Ich denke, die meisten politischen Entscheidungsträger haben die Glaubwürdigkeit der Drohungen schon lange infrage gestellt», so die Einschätzung von Politologen Steenbergen. Russland sei aber immer noch eine Atommacht – und selbst wenn die Chance auf eine Eskalation klein ist, besteht sie und sei nicht von der Hand zu weisen.