Daran kommt die russische Propaganda nicht vorbei: Tadschiken wurden vom «Islamischen Staat Provinz Khorasan» (ISPK) am 22. März in die Konzerthalle Crocus City Hall geschickt, um so viele Christen wie möglich zu töten. Die bisherige Bilanz des Attentats: 143 Tote und 360 Verletzte. 91 Menschen werden noch vermisst. Die islamistische Terrororganisation hat sich mehrfach zum Anschlag bekannt, das Grauen mit Videos und Fotos dokumentiert. Auch Wladimir Putin (71) musste nach langem Zögern einräumen, dass die Tat von religiösen Extremisten begangen wurde.
Dennoch hält der Kreml an einer Verschwörungstheorie fest. Die Ukraine habe den IS beauftragt, sei Komplize der Terroristen. Putin sagte laut Medien, er bezweifle, dass radikale Islamisten während des Ramadan-Monats Verbrechen begehen dürften. Und: Nur dem kollektiven Westen würde das Attentat nutzen. Vorneweg der Ukraine.
Türkei befeuert Verschwörungstheorie
Nach dem Attentat erklärte der Kreml-Chef im Staatsfernsehen, Kiew habe den vier Todesschützen für ihre geplante Flucht in die Ukraine am Grenzübergang ein Fenster offen gehalten. Zudem meldete die russische Ermittlungskommission auf Telegram, die Terroristen hätten grosse Beträge Kryptowährungen aus der Ukraine erhalten und stünden in Verbindung mit «ukrainischen Nationalisten».
Öl ins Feuer schüttet nun auch die Türkei. Gegenüber dem türkischen Fernsehsender NTV sagte Ömer Celik (55), Sprecher der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), am Donnerstag: «Ein derart professionell durchgeführter Anschlag kann nicht ohne die Unterstützung des Geheimdienstes eines mächtigen Staates vorbereitet werden. Solche Attentate haben immer Sponsoren, die Konflikte antreiben wollen.» Doch welchen Staat meint der Sprecher der regierenden Partei AKP? Den Iran? Oder Pakistan? Beide Länder unterstützen zwar Dschihadisten bei Terroraktionen, sind jedoch neuerdings selbst Ziele des ISPK.
«IS-Terroristen werden vom Westen kontrolliert»
Oder ist diese Äusserung ein Geschenk an Putin, mit dem die Türkei nun eng in der Terrorismusverfolgung zusammenarbeiten will? Die Ukraine wird Recep Tayyip Erdogan (70) wohl kaum direkt anschwärzen. Er gefällt sich in der Rolle des Friedensvermittlers, war bereits erfolgreich bei Getreideabkommen und Gefangenenaustausch. Die Türkei will in Zukunft Geschäfte machen – mit Moskau und Kiew. So ist mit der Ukraine ein Handelsaustausch in Höhe von zehn Milliarden US-Dollar geplant.
Auf X zeigt Ömer Celik mit dem Finger weiter in den Westen. Die USA hätten mit ihrer israelfreundlichen Haltung zur Gewalt in Gaza zum Attentat in Russland ermutigt und würden die Politik der Massaker vorantreiben, schreibt der AKP-Mann. Auf der gleichen Plattform wird Taliban-Sprecher Suhail Shaheen deutlicher: «Die Stellungen des IS sind ausserhalb von Afghanistan und unter Kontrolle westlicher Geheimdienste.» In der Vergangenheit hatten die Taliban immer wieder die USA beschuldigt, den ISPK für Anschläge einzuspannen.
Jagd auf Tadschiken, Usbeken und Kirgisen
Während die Ermittlungskommission «Beweise» gegen die Ukraine zusammenkratzt, läuft in Russland die offene Jagd auf Tadschiken, Usbeken und Kirgisen. Deren autokratische Länder sind zwar Verbündete Moskaus, doch in ihrer verarmten muslimischen Bevölkerung kann der ISPK erfolgreich Krieger rekrutieren.
Seit dem Attentat vom 22. März werden immer wieder Zentralasiaten an russischen Flughäfen festgenommen, beklagt die kirgisische Menschenrechtsaktivistin Aziza Abdirasulova gegenüber RFE/RL. Von Schikanen und Drohungen gegen Zentralasiaten durch Strafverfolgungsbehörden berichtet auch Eurasianet. Beispiele liefern die russischen Nachrichtenagenturen Tass und Astra. Sie erzählen von Ausweiskontrollen in Firmen, wo Polizisten mit Schlagstöcken auf Tadschiken einprügeln. Auf Telegram laufen Videos von Massenverhaftungen.
Nicht nur die Staatsmacht geht brutal vor. Auch die Bevölkerung greift Berichten zufolge zentralasiatische Mitbürger an. Im Osten, in Blagoweschtschensk, wurde ein tadschikisches Café in Brand gesetzt, im westrussischen Kaluga drei Tadschiken zusammengeschlagen. Und ein Barbier in Moskau, der einen der verhafteten Terrorverdächtigen beschäftigt hatte, musste die Polizei rufen, weil ein Mob ihn zu lynchen drohte.