Russische Rakete trifft Hochhaus in Kiew
0:19
Video zeigt riesige Explosion:Russische Rakete trifft Hochhaus in Kiew

Trotz massivem Raketen-Beschuss und ausbleibenden Hilfen aus dem Westen sind Experten überzeugt
Die Ukraine wankt – aber Russlands Lage ist ebenso prekär

Russland attackiert ukrainische Städte massiv. Es pumpt 2024 über 100 Milliarden Franken in die Rüstungsindustrie, stockt die Zahl seiner Soldaten auf 1,32 Millionen auf. Sitzt der Kreml-Chef jetzt am längeren Hebel? Nicht unbedingt, sagt Experte Karl-Heinz Kamp.
Publiziert: 04.01.2024 um 10:42 Uhr
|
Aktualisiert: 04.01.2024 um 13:20 Uhr
1/2
Raketen des Typs S-300 und Kinschal-Hyperschallraketen wurden auf das Zentrum von Charkiw abgefeuert und sorgten am 2. Januar für mehrere Explosionen in bewohntem Gebiet. Auch einige Hochhäuser wurden zerstört.
Foto: imago/CTK Photo
Blick_Portrait_1329.JPG
Myrte MüllerAussenreporterin News

Das neue Jahr beginnt so traurig, wie das alte endete. In der Ukraine brennen Häuser. Blutende Menschen werden über Trümmer und Scherben in Ambulanzen getragen. In Hinterhöfen klaffen Krater, verursacht durch russische Raketen. Bewohner fliehen aus ihren beschossenen Wohnungen, irren ziellos durch ihre verwüstete Nachbarschaft.

Auf Kiew, Charkiw, Odessa, Lemberg und Dnipro ging ein regelrechter Bombenhagel nieder. Ziele der russischen Angriffe seien in erster Linie soziale und kritische Infrastrukturen gewesen, heisst es aus der Ukraine. Seit dem vergangenen 29. Dezember habe der Feind mindestens 500 Raketen und Drohnen auf die Ukraine abgefeuert, postete Präsident Wolodimir Selenski (45) am Dienstagabend auf der Plattform X – so viele wie noch nie auf ein Mal seit Beginn der Invasion vor zwei Jahren. Gleichzeitig zeigt sich der Westen so Uneins wie selten, was die Aufrüstung der Ukraine betrifft.

Alle Zeichen stehen also auf Niederlage – könnte man meinen. Doch Experten, mit denen Blick spricht, sind in Bezug auf die Ukraine längst nicht so pessimistisch, wie man erwarten könnte. Putins Russland, so der Tenor, hat massive Probleme.

Über den Jahreswechsel lässt Wladimir Putin (71) militärisch die Muskeln spielen. Der Kreml-Chef zeigt sich im Staatsfernsehen selbstbewusst. Er steuert auf seine fünfte Amtszeit als Präsident zu, hat sein Land auf Kriegswirtschaft getrimmt. Und die brummt offenbar. Gemäss der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) investierte Russland 2023 rund fünf Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in die Rüstungsindustrie. 2024 soll der Etat auf knapp sechs Prozent steigen – über 100 Milliarden Franken allein für Militär, nationale Sicherheit und Polizei.

1/13
In Kiew kam es am 2. Januar zu Bombardements. In diesem zehnstöckigen Gebäude wurden zwei Rentner getötet und 49 weitere Bewohner verletzt.
Foto: imago/Le Pictorium

Zudem will der Kreml-Chef noch mehr Soldaten für die «militärische Spezialoperation». Ihre Zahl soll auf 1,32 Millionen ansteigen. Putins Kalkül: Ein langer Stellungskrieg wird das ukrainische Volk zermürben, den Präsidenten im eigenen Land infrage stellen und die weltweiten Geber-Staaten ermüden.

So manche Medienberichte mögen Putins Visionen beflügeln. Im US-Kongress halten Republikaner zurzeit ein Hilfspaket in Höhe von 61 Milliarden US-Dollar zurück. In der EU blockiert das putinfreundliche Ungarn eine weitere 50-Milliarden-Hilfe und in der Ukraine selbst büsst Selenski laut Umfragen an Beliebtheit ein.

Westen hält weiter zur Ukraine

Düstere Aussichten für das Jahr 2024. Wird am Ende die Ukraine den Krieg doch noch verlieren? Nicht, wenn man dem deutschen Sicherheitsexperten Karl-Heinz Kamp (66) zuhört. Der ist überzeugt: Putin hat sich im Bezug auf die Ukraine tüchtig verkalkuliert. «Russland kann die Ukraine beschiessen, den Krieg gewinnt es damit nicht.» Für den ehemaligen Präsidenten der Bundesakademie für Sicherheitspolitik steht Russland heute schlechter da als vor zwei Jahren. «Die Ukraine ist dem Westen näher als je zuvor. Sie wird weiterhin Unterstützung erhalten», so der Beauftragte des politischen Direktors im Bundesministerium für Verteidigung im Blick-Gespräch.

«Mit der Aufnahme von Beitrittsgesprächen bietet die EU dem Land die Verankerung im Westen an – etwas, das Putin unbedingt verhindern wollte», so Kamp weiter. Das EU-Hilfspaket würde früher oder später beschlossen, davon ist der studierte Historiker überzeugt. Gleiches gelte für die US-Milliarden. «Die Ukraine-Hilfen sind der Spielball in einer innenpolitischen Debatte um die Sicherung der amerikanischen Südgrenze», sagt Karl-Heinz Kamp. Gelingt es den beiden Parteien, über ihre Schatten zu springen, fliesst auch wieder Geld für die Ukraine. Auch an die Nato sei die Ukraine herangerückt. «Beim nächsten Nato-Gipfel im Juli dieses Jahres in Washington wird über eine Mitgliedsperspektive der Ukraine beraten werden.»

Putin kann den ukrainischen Widerstand nicht brechen

Putins Muskelspiel sieht Karl-Heinz Kamp mit Skepsis. Der Krieg werde in diesem Jahr 40 Prozent der russischen Staatsausgaben verschlingen, ohne dass Russland im Krieg wirklich eskalieren könne. «Die Schwarzmeerflotte hat einen grossen Teil ihrer Schiffe aus Sewastopol abziehen und weiter nach Osten verlagern müssen, weil schon nur wenige britische Storm-Shadow-Marschflugkörper eine erhebliche Gefahr darstellen.» Und die gelieferte Munition aus Nordkorea sei mangelhaft und kaum einsetzbar.

Auch wenn Selenski zu Hause hier und dort in die Kritik gerät, so kann Russland nicht den Mut der Ukrainer brechen. Laut einer gemeinsamen Untersuchung des Friedensforschungsinstituts Oslo und der Universität Tilburg würden die dauernden Angriffe den ukrainischen Widerstand eher stärken.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?