«Die Schweiz muss sich für das internationale Recht einsetzen»
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Sicherheitsexperte Heusgen:«In diesem Fall kann man nicht neutral sein»

Top-Sicherheitsexperte Christoph Heusgen (67) fordert klares Bekenntnis
«Schweiz sollte Waffen an Ukraine liefern»

Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz über Putins Angriffskrieg, europäische Atombomben und die Grenzen der Schweizer Neutralität.
Publiziert: 13.05.2022 um 00:13 Uhr
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Aktualisiert: 13.05.2022 um 06:20 Uhr
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«Europa muss sehr viel mehr machen»: Christoph Heusgen auf dem Balkon seines Büros in Berlin.
Foto: Christoph Soeder
Interview: Fabienne Kinzelmann

Christoph Heusgens Terminkalender ist voll: Einschätzungen für TV-Sender in Berlin, Besprechungen in München, Konferenzen in Washington. Vier Tage nach Heusgens Amtsantritt als Chef der Münchner Sicherheitskonferenz marschierte Putin in die Ukraine ein. «Ich hatte zwar gesagt, dass wir noch nicht über den Berg sind, aber ich hatte schon die Hoffnung, dass Putin mitbekommt, wie geschlossen die internationale Gemeinschaft ist», sagt Heusgen, den Blick zum Interview in seinem Berliner Büro trifft.

Blick: Der Westen hat sehr lange geglaubt, Putin nicht «provozieren» zu dürfen. Sind wir über diesen Punkt hinaus?
Christoph Heusgen: Auf Putin kann man sich nicht verlassen, auf sein Wort kann man sich nicht verlassen. Putin hat alle internationalen Verträge, die Russland geschlossen hat, gebrochen, von der Charta der Vereinten Nationen über die KSZE-Grundakte, die Charta von Paris, welche die freie Bündniswahl garantiert, bis hin zum Budapester Memorandum, in dem Russland der Ukraine territoriale Integrität und Souveränität garantiert hat – als Gegenleistung dafür, dass die Ukraine Atomwaffen aufgegeben hat. Alle Verträge, die Putins Namen tragen, sind das Papier nicht wert, auf das sie geschrieben sind.

Seit dem Einmarsch hat Europa seine Verteidigungskräfte gestärkt, bereits im vergangenen Jahr überstiegen die globalen Militärausgaben erstmals 2 Billionen US-Dollar. Leben wir in einem neuen Zeitalter der Aufrüstung?
Es ist eher eine Rückkehr zum Kalten Krieg, während dem im Mittelpunkt der Nato die Verteidigung des eigenen Gebiets stand. Seither war die Nato mehr auf Friedensoperationen ausserhalb ausgerichtet. Jetzt rückt die territoriale Verteidigung wieder in den Fokus. Und damit einher geht eben auch die Aufstellung der militärischen Mittel, die notwendig sind, um eine solche Verteidigung glaubhaft aufrechtzuerhalten.

Inklusive der atomaren Abschreckung.
Ja, das gehört auch dazu. Die Stabilität, die wir nach dem Zweiten Weltkrieg hatten, war ja eine auf Abschreckung ausgerichtete Verteidigung. Die nukleare Teilhabe für Deutschland war ein wichtiger Bestandteil dieser Abschreckung. Und das hat ja auch 75 Jahre gewirkt.

Jetzt nicht mehr?
Sie wirkt beim Nato-Gebiet nach wie vor. Aber man muss sich auf diese Kernfunktionen zurückbesinnen. Deswegen ist es wichtig, dass die Bundesregierung ein klares Bekenntnis zur nuklearen Teilhabe abgelegt hat. Und dass sie jetzt auch vorangeht mit der Beschaffung der Flugzeuge, um diese nukleare Teilhabe auch glaubwürdig aufrechtzuerhalten.

Zur Person

Der deutsch-schweizerische Doppelbürger Christoph Heusgen (67) ist seit dem 20. Februar Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, der weltweit wichtigsten Tagung zu sicherheitspolitischen Debatten. Zuvor war er im diplomatischen Dienst und zwölf Jahre der aussenpolitische Berater von Angela Merkel. Seit der Annexion der Krim 2014 arbeitet er regelmässig mit der Schweizer Regierung zusammen, insbesondere während ihrer OSZE-Präsidentschaft. Der Schweiz ist er zudem als Honorarprofessor an der Universität St. Gallen und auch in seiner Freizeit verbunden: Bereits sechsmal lief er den Engadiner Skimarathon.

Der deutsch-schweizerische Doppelbürger Christoph Heusgen (67) ist seit dem 20. Februar Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, der weltweit wichtigsten Tagung zu sicherheitspolitischen Debatten. Zuvor war er im diplomatischen Dienst und zwölf Jahre der aussenpolitische Berater von Angela Merkel. Seit der Annexion der Krim 2014 arbeitet er regelmässig mit der Schweizer Regierung zusammen, insbesondere während ihrer OSZE-Präsidentschaft. Der Schweiz ist er zudem als Honorarprofessor an der Universität St. Gallen und auch in seiner Freizeit verbunden: Bereits sechsmal lief er den Engadiner Skimarathon.

Europa hat sich verschätzt, was Putins Bereitschaft für einen Ukraine-Angriff angeht. Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir uns auch bei seinem Willen zum Einsatz taktischer Nuklearwaffen oder Angriffen auf Nato-Gebiet verschätzen. Wie hoch schätzen Sie das Risiko aktuell ein?
Die Spekulationen von russischer Seite über mögliche Einsätze von Nuklearwaffen sind unverantwortlich. Russland spielt hier mit dem Feuer. Ich verlasse mich darauf, dass das System der gegenseitigen Abschreckung weiterhin funktioniert. Die USA haben sehr glaubwürdig dargelegt, dass sie zur Nato und zur Bündnisverpflichtung stehen. Darauf können wir uns verlassen, und das sollte auch Putin wissen.

Bei den nächsten US-Wahlen 2024 könnte Trump wiedergewählt werden. Können wir uns auch dann auf eine US-dominierte Nato verlassen?
Wir müssen. Derzeit erleben wir, wie gut das Bündnis funktioniert. Ich habe selten eine so gute Abstimmung, ein so gutes transatlantisches Verhältnis gesehen, wie wir es derzeit haben. Wir müssen alles daran setzen, dass wir dieses Verhältnis weiter pflegen – auch auf dieser Seite des Atlantiks. Dass wir das Bekenntnis der Bundesregierung zur Erfüllung des 2-Prozent-Ziels bei den Verteidigungsausgaben, das wir ja schon vor acht Jahren gegeben haben, jetzt umsetzen, ist wichtig, um unseren europäischen Beitrag zu einer funktionierenden transatlantischen Allianz zu liefern.

Braucht Europa eigene Atomwaffen?
Dies steht jetzt nicht auf der Tagesordnung. Aber wir sollten bei den Überlegungen über die Weiterentwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine europäische atomare Verteidigung nicht ausschliessen, also so etwas wie eine nukleare Teilhabe – wie wir es in der Nato haben – an französischen Nuklearwaffen. Auch wenn das für Frankreich aufgrund seiner Geschichte ein heikles Thema ist. Die Force de frappe ist eine nationale Waffe, entsprechend ist die Entscheidungshoheit eine nationale.

Wären die französischen Atomstreitkräfte im Fall eines Angriffs überhaupt schlagkräftig genug – und würden die Franzosen auch reagieren, wenn Putin eine Atombombe einsetzt?
Die französischen Nuklearkräfte sind begrenzter als die amerikanischen. Wie man eine nukleare Teilhabe ausgestalten würde, müsste man dann sehen, falls sich Frankreich jemals auf so etwas einlässt.

Sind die Franzosen seit dem russischen Angriffskrieg offener dafür?
Wenn man auf das ganze Spektrum der französischen Politik schaut, wenn man einzelnen Politikern und auch den sehr proeuropäischen Reden von Macron zuhört, erkenne ich eine gewisse grundsätzliche Bereitschaft, über solche Themen zumindest mal zu sprechen.

Wo muss Europa in Sachen Verteidigung noch nachbessern?
Europa muss sehr viel mehr machen im Hinblick auf eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Eigentlich hatten wir schon vor 20 Jahren geplant, sogenannte Battle Groups aufzustellen, die schnell einsetzbar sind. Wir mussten nun realisieren – zum Beispiel, als wir unsere Bürger aus Kabul evakuieren wollten –, dass die europäischen Fähigkeiten nicht einmal ausreichen, um einen Flughafen zu sichern.

Also eine europäische Armee.
Das klingt immer sehr hochtrabend. Wir brauchen europäische Einsatzkräfte. Und wir in Deutschland müssen auch sichergehen, dass sich unsere Partner darauf verlassen können, dass wir im Fall eines Einsatzes schnell die notwendigen Bedingungen schaffen.

Der Bundestag muss dem Einsatz deutscher Truppen immer zustimmen.
In einem Notfall kann diese Zustimmung auch nachgeholt werden, sodass wir von deutscher Seite bereit wären, an einer solchen Eingreiftruppe teilzunehmen. Das sollten wir tun, und wir sollten vorangehen. Das bedeutet, Nägel mit Köpfen zu machen und anfangen zu üben, sodass wir tatsächlich innerhalb kürzester Zeit eine solche Truppe in den Einsatz schicken können.

Wo sehen Sie die Schweiz in dieser neuen europäischen Sicherheitsarchitektur?
Die Frage bei allen Mitgliedern der Vereinten Nationen ist: Wer steht auf der Seite der Ukraine, auf der Seite der EU, für die Beachtung internationalen Rechts, für die Charta der Vereinten Nationen, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und die auf diesem Recht basierenden internationalen Abkommen? Es ist wichtig, dass die Schweiz auf der Seite derjenigen steht, die für die Durchsetzung internationalen Rechts stehen, und sich dann auch dafür einsetzt.

Wie finden Sie es dann, dass die Schweiz die Lieferung von hierzulande hergestellter Munition blockiert?
Es ist als Nicht-Schweizer immer gefährlich, sich in die Diskussion um die Schweizer Neutralität einzumischen.

Sie sind ja Schweizer.
Bei dieser Frage nicht. Ich glaube, das ist eine Entscheidung, die die Schweiz treffen muss.

Die Schweiz wird im nächsten Jahr Mitglied im Uno-Sicherheitsrat. Muss sie dann nicht konkret Stellung beziehen?
Es wird interessant, wenn es darum geht: Soll man ein russisches Verhalten, wie wir das gerade in der Ukraine sehen, verurteilen oder nicht? Als Massstab sollte sich die Schweiz immer nach dem internationalen Recht ausrichten und sich immer für das internationale Recht einsetzen. Die Ukraine kommt ihrem legitimen Recht der Selbstverteidigung nach der Charta der Vereinten Nationen nach. Ich fände es richtig, wenn die Schweiz die Ukraine bei der Ausübung ihres Rechts auf Selbstverteidigung zur Bewahrung nationaler Souveränität nach der Charta – also zur Durchsetzung internationalen Rechts, nachdem sie einem völlig ungerechtfertigten Angriff Russlands gegenüberstand – unterstützt und dazu dann auch Munition und Waffen an die Ukraine liefert.

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