Auf einen Blick
- Schüler und Studenten besetzten Bildungsinstitutionen in ganz Serbien
- Sie schlafen auf Luftmatratzen und ernähren sich von Spenden der Bevölkerung
- Ihr Kampf gegen Korruption löst Massenproteste aus
Den Eingang bewachen die Computernerds. Gleich drei von ihnen hauen zwischen Energydrinks und Kabeln in die Tasten. Wer die naturwissenschaftliche Fakultät der Uni Novi Sad betreten will, muss sich bei ihnen registrieren. «Sieh mal», sagt einer von ihnen, deutet auf den Bildschirm. «Wir tragen Name und Studentennummer ein. So wissen wir immer, wer im Gebäude ist und können sicherstellen, dass keine ungebetenen Gäste hereinkommen.»
Ungebetene Gäste – das sind so ziemlich alle, die hier nicht studieren oder unterrichten. Denn wie viele andere Bildungsinstitutionen in Serbien wird die Universität Novi Sad derzeit besetzt. Keine Vorlesungen, kein Unterricht an vielen städtischen Mittelschulen. Seit drei Monaten protestieren sie gegen die Korruption im Land. Auslöser war ein tödliches Unglück am Bahnhof von Novi Sad: Das Vordach stürzte ein, Tonnen von Beton, die 15 Menschen das Leben kosteten.
Angriffe auf Demonstrierende
Die Software für die Registrierung am Eingang haben die Studenten selbst programmiert. «Es gab in den letzten Wochen einige Angriffe auf Demonstrierende – deshalb sind wir so vorsichtig, wen wir hereinlassen», erklärt Thea (23). Prügelattacken auf offener Strasse oder Autos, die während Protesten in die Menschenmenge fahren. «Anfangs hatten wir ziemlich Angst. Die hat sich jetzt gelegt, weil wir von so vielen Bürgern unterstützt werden.»
Sie führt durch ihre Fakultät. Zurzeit sind die Uni-Räume ihr Zuhause. Seit Anfang Dezember wohnt sie hier, mit Hunderten anderen. Überall hängen Plakate mit Protestsprüchen oder Glückwünschen. «Die Menschen in der Stadt und den umliegenden Dörfern schicken uns Briefe und Essen», sagt Thea.
Massenproteste in ganz Serbien
Vergangenes Wochenende haben die Studenten eine Massendemonstration organisiert. Im ganzen Land gingen Zehntausende auf die Strassen. In Novi Sad blockierten die Menschen drei grosse Brücken, die über Novi Sad führen. «Die Architektur-Studenten haben ausgerechnet, wie viel Gewicht die Brücken halten können. Ab einer bestimmten Anzahl Personen haben die Organisatoren niemanden mehr rauf gelassen», erzählt Nemanja (19), Schüler an einer der besetzten Mittelschulen.
Die Demonstranten fordern eine öffentliche Untersuchung des Bahnhof-Unglücks. Denn das Vordach wurde erst wenige Monate vor dem Einsturz renoviert. Staatsnahe Unternehmen haben den Auftrag ausgeführt. Vermutet wird, dass sie möglichst billig wegkommen wollen, um sich das Geld in die eigenen Taschen zu stecken. «Solche Sachen passieren in Serbien jeden Tag», sagt Nemanja.
Der Bürgermeister von Novi Sad und der Premierminister Serbiens sind indes zurückgetreten. Letzterer sagte, er wolle mit seinem Abgang verhindern, dass die Spannungen im Land weiter zunähmen. Doch die Rücktritte interessieren die Protestierenden nicht. Denn das letzte Wort hat sowieso Präsident Aleksandar Vucic (54): Er und seine progressive Partei bleiben stur.
Regierende Partei zeigt Mittelfinger
Im Interview mit Blick spielt Vucic die Proteste herunter. Für viele ein Beweis, dass die Regierung «Blut an den Händen» hat. Eine blutige Hand ist denn auch das Symbol des Protests. Die progressive Partei reagierte mit einem blutigen Mittelfinger auf ihrer Facebook-Seite.
Thea betritt den «Kühlraum» der Uni, ein ungeheiztes Zimmer im Keller, das die Studenten zum Lager von Lebensmitteln nutzen. Sorgfältig gestapelte Packungen mit Keksen, Chips, Pasta. «Unsere Fakultät hat einen Hygiene-Fimmel», sagt sie lachend. Kollegin Natascha (27) stösst dazu, öffnet die Tür zu einem anderen Raum. Luftmatratzen und Decken liegen auf dem Boden – zurzeit ihr Schlafzimmer.
«Wir fordern keinen Systemwechsel», betont Natascha. «Sondern schlicht, dass die Institutionen ihren Job machen. Also das Unglück korrekt untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.»
Vucics Name ist tabu
Je mehr die Proteste wachsen, umso stärker vermischen sich unterschiedliche Interessen. Was sie eint: Frust gegenüber der Regierung. Nemanja erklärt: «Die Studenten haben sich geeinigt, Vucics Namen nicht zu nennen. Sie adressieren ihre Forderungen stets an die Institutionen.» Doch weil der Präsident zunehmend autokratisch regiert, die Pressefreiheit massiv eingeschränkt hat, trifft die Kritik vor allem ihn.
Grosser Druck lastet auch auf den Studenten. Natascha sagt: «Wir haben den Menschen Hoffnung gebracht. Nun dürfen wir sie nicht im Stich lassen.» Ihr Studentenleben hat sie pausiert: An Versammlungen den Widerstand organisieren, statt Studentenpartys zu feiern. Wie es mit ihrem Studium weitergeht, ist völlig offen. Nur eines ist für Natascha klar: «Aufgeben ist keine Option mehr.»