St. Louis ist die gefährlichste Stadt der USA
3:44
Gefährlichste Stadt der USA:An dieser Kreuzung wurde Ethan (18) getötet

Sonntagsblick in der gefährlichsten Stadt Amerikas
«Ich wusste, dass ich jemanden verlieren könnte»

Nirgends in den USA gab es 2020 so viele Mordopfer wie in St. Louis. Die Spirale aus Armut und Gewalt ist tödlich, die Auswirkungen fatal. Und immer öfter sind die Opfer auch Kinder oder Teenager.
Publiziert: 05.12.2021 um 02:35 Uhr
|
Aktualisiert: 05.12.2021 um 13:14 Uhr
1/20
Er freute sich auf die Uni: Mordopfer Ethan Sandhu.
Foto: Zvg
Fabienne Kinzelmann, St. Louis

Ethan Sandhu (18) hat gerade erst die Highschool abgeschlossen, als sein Leben endet. Am 1. Juni dieses Jahres wird er an einer Strassenkreuzung in St. Louis in seinem Auto erschossen.

«Es trifft mich jeden Tag, wenn ich aufwache», sagt Mary Kay Sandhu (53), seine Mutter.

«Ich wusste immer, dass ich jemanden wegen Waffengewalt verlieren könnte», sagt Hannah Rose (18), seine Freundin. «Ich dachte nur nicht, dass es Ethan ist.»

Der Teenager ist eines von vielen jungen Opfern der jüngsten Gewaltwelle in den USA. Im ganzen Land steigen die Mordraten, 2020 sogar um rund 30 (!) Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Und fast nirgends ist es so schlimm wie in St. Louis.

87 tödliche Schiessereien pro 100'000 Einwohner

Mitte Oktober, ein später Montagnachmittag. Dreieinhalb Monate nach Ethans Tod hat sich Blick mit Ethans Mutter Mary und Ethans Freundin Hannah an einer Picknickstelle im Tower Grove Park verabredet. Die beiden Frauen kommen mit Peanut (5), Ethans Hund.

«Unser zweites Date war im Park. Ethan brachte seine Gitarre mit. Ich war beeindruckt, weil er wirklich talentiert war», erzählt Hannah, die gerade mit dem College angefangen hat. Ethans Mutter nickt. «So talentiert! Er hat auch Fagott gespielt und selbst komponiert», sagt sie. An der Webster University, einer Privatuniversität, hätte Ethan ein Stipendium gehabt.

St. Louis, die zweitgrösste Stadt in Missouri, die berühmte Persönlichkeiten wie Chuck Berry, Tina Turner und Josephine Baker hervorgebracht hat, verzeichnete vergangenes Jahr 87 Tötungsdelikte pro 100’000 Einwohner – ein trauriger 50-Jahres-Rekord. Fast immer mit einer Schusswaffe.

An der Kreuzung zwischen der 22nd Street und University Street, wo der 18-jährige Ethan erschossen wurde, deutet heute nichts auf das Verbrechen hin. Die offizielle Todesursache: «Schusswunden am Oberkörper». Mehr darf auf Rücksicht auf die Ermittlungen an dieser Stelle nicht geschrieben werden. Vielleicht ein Raub, der schieflief. Möglicherweise war Ethan in dieser Gegend, um Marihuana zu kaufen. Für den Kauf hatte er auch die medizinische Erlaubnis. «Gras» half gegen seine Angststörungen und Depressionen.

Ethans Familie leidet unter dem Tod

Fotos in den sozialen Netzwerken zeigen einen herzlichen jungen Mann mit buschigen Augenbrauen, schulterlangen Haaren und Bart: Ethan beim Grimassenschneiden, Ethan in einer bunten Hippie-Hose beim Herumtollen mit Peanut, Ethan mit Hannah.

«Artsy in jeder Hinsicht», so beschreibt ihn seine Freundin: künstlerisch. Pilzezüchten war das gemeinsame Hobby des Pärchens, das im August sein Einjähriges gefeiert hätte. Austernpilze zum Beispiel, zum Kochen. «In seinem Kleiderschrank hatte er sogar ein Gewächshaus», sagt Hannah. «Und soziale Ungerechtigkeit hat uns beschäftigt.» An der Schule gründete Ethan unter anderem einen Sozialismus-Klub. Fast immer trug er einen «Black Lives Matter»-Pin.

«Ethan war das Kind, das sich immer für andere eingesetzt hat, der auch auf Aussenseiter zuging und sie einbezogen hat», sagt Mary Kay, eine Sonderschullehrerin. Ethan war der jüngste ihrer vier Söhne. Die Lücke in ihrer Familie sei unvorstellbar, der Schmerz riesig. «Ethans Oma weinte gestern den ganzen Tag. Ich selbst spüre mich manchmal gar nicht mehr. Ich dachte immer, so was passiert anderen.»

Früher wurden Viertel nach Rasse und Ethnie getrennt

Der Norden von St. Louis ist ein Gewalt-Hotspot. Der Delmar Boulevard trennt Missouris zweitgrösste Stadt «nach Rasse und Perspektive», schrieb die «Washington Post» 2014: Auf der einen unmittelbaren Seite der Strasse lebten 70 Prozent Weisse mit schicken Häusern in «Gated Communities», abgeschlossenen Wohnanlagen – auf der anderen Seite 99 Prozent Schwarze. Eine bis heute bestehende Folge des extremen Redlining, des Abgrenzens und Diskriminierens von Stadtvierteln aufgrund von rassischen oder ethnischen Merkmalen.

Wer durch Viertel wie Jeff-Vander-Lou oder auch East St. Louis fährt, das streng genommen zu Illinois gehört, aber nur eine Brückenüberquerung vom mondänen Downtown und dem Wahrzeichen, dem Gateway Arch, entfernt ist, bekommt ein Gefühl dafür, wie tiefsitzend die Probleme sind.

Bei Tageslicht sind kaum Menschen auf der Strasse, die Anwesen sind ungepflegt, verlassen oder niedergebrannt, das Gras hoch, Müll am Strassenrand. Ein Transporter bringt ausgebrannte Wagen auf den Schrottplatz. Es gibt keine Supermärkte, keine Arztpraxen, keinen öffentlichen Verkehr.

«Das hier ist eine gute Gegend», sagt Trevor (29) trotzig, der mit seinen Freunden Jeff (25) und James (35) auf der Strasse herumhängt. Ob sie auch sicher sei? «Niemand ist sicher», sagt Jeff, der lange Rastas, einen königsblauen Jogginganzug und drei Goldzähne trägt. Ob er eine Waffe habe? «Jeder in St. Louis hat eine!» Er lacht verächtlich, als hätte man gerade eine wirklich dumme Frage gestellt. «Armut, Drogen, Unfälle. Das ist einfach das Leben hier, und wir machen das Beste draus.»

An den Bordsteinen erinnern immer wieder Luftballons, Teddybären und Blumen an Mordopfer.

«Ich könnte mir jetzt sofort eine Waffe kaufen»

Erst ein paar Tage zuvor hat ein neuer Fall für Aufsehen gesorgt: Bei einer Schiesserei wurden drei Teenager verletzt, die 19-jährige Isis Mahr starb. Sie spielte Fussball, studierte Krankenpflege.

«Die schwarzen Communitys sind besonders betroffen und sie verlieren in der aktuellen Gewalt-Epidemie nicht einfach nur Gangmitglieder, sondern Menschen, die Ärzte, Anwälte, Lehrer, Krankenschwestern, Eltern, Grosseltern sein könnten», sagt Jessica Meyers (40) von der St. Louis Area Violence Prevention Commission. Und was man nicht vergessen dürfte: Auf jede tödliche Schiesserei gebe es noch 30 bis 40 weitere nicht tödliche Schiessereien.

Missouri gehört zu den Staaten mit den laxesten Waffengesetzen. «Ich könnte jetzt jemanden anrufen und mir einfach eine Waffe kaufen», sagt Hannah, Ethans Freundin.

Die Mordopfer sind immer häufiger Jugendliche

Experten vermuten, dass die Folgen der Pandemie und von George Floyds Tod die Gewaltwelle im letzten Jahr mitausgelöst haben. Doch St. Louis findet sich regelmässig auf den Listen der gefährlichsten Städte Amerikas, und auch in diesem Jahr gab es bereits 152 Tote, ein Viertel davon 19 Jahre alt oder jünger – wie Ethan.

«Die Polizei hat nicht genügend Leute. Niemand will hier direkt in der Stadt arbeiten, weil es so gefährlich ist», sagt Katie Dalton (30) von der Opferhilfsorganisation Crime Victim Center. Sie hofft auf die neue Bürgermeisterin Tishaura Jones (49). Die steckt das Budget für vakante Stellen nun erstmal in Sozialarbeit und Opferhilfsprogramme.

Es gibt erprobte Modelle, um die Mordraten zu senken: Sie funktionieren ähnlich wie die Bekämpfung von Krankheiten durch Prävention. Ausgebildete «Gewaltunterbrecher» etwa bauen Beziehungen zu Schlüsselpersonen in den Vierteln auf, vermitteln in Konflikten und versuchen, etwa Rache-Angriffe zu verhindern. Anlaufstellen schaffen, psychische Krankheiten behandeln, Verhaltensänderungen fördern. Viele Opfer der Spirale aus Armut und Gewalt könnten so vielleicht vermieden werden.

«Es scheint nur in gewissen Nachbarschaften zu passieren – aber es passiert eben nicht nur Menschen aus diesen Nachbarschaften», sagt Ethans Freundin Hannah traurig.

Ethan freute sich aufs College

Als Ethan erschossen wurde, ging es ihm so gut wie lange nicht. In einer Ausgabe der Schülerzeitung seiner High School, die online zugänglich ist, erzählt Ethan offen über seinen Weg aus der Depression. Mehrfach hatte er versucht, sich das Leben zu nehmen, bis die Diagnose und die Behandlung ihm halfen. Im Sommer plante er eine vierwöchige Reise in die Nationalparks des Landes, zwei davon mit Hannah.

Ethan habe sich richtig auf die Uni gefreut, sagt seine Mutter. «In jeder Interaktion, jeder Komposition, jeder freundlichen Nachricht möchte ich einen Anfang für etwas Gutes schaffen», steht in dem Essay, mit dem er sich fürs College bewarb. «Das etwas wächst, das anderen hilft.» Auf gar keinen Fall wolle er Chancen verschwenden. Oder gar das Leben selbst.

Oberster Gerichtshof könnte Waffenrechte stärken

Die obersten Richter der USA haben für die kürzlich begonnene Sitzungsperiode den Fall «New York State Rifle & Pistol Association Inc. v. Kevin P. Bruen» auf die Agenda gesetzt. Noch in diesem Herbst will der Supreme Court entscheiden, ob das Recht, in der Öffentlichkeit eine Waffe zu tragen, ausgeweitet wird.

Die Schlüsselfrage: Gibt es Beschränkungen für die Art der Schusswaffe, die ausserhalb des Hauses getragen werden kann?

Für Politikerinnen und Politiker beider Lager ist die Frage ein Dilemma: Einerseits gibt es eine starke Verbreitung von Waffen, deren Letalität viel höher ist, als sich die Gründungsväter der Vereinigten Staaten zum Zeitpunkt des zweiten Zusatzartikels der Verfassung wohl jemals gedacht hatten – andererseits sind da die Millionen wahlfreudigen Waffenbesitzer.

Die obersten Richter der USA haben für die kürzlich begonnene Sitzungsperiode den Fall «New York State Rifle & Pistol Association Inc. v. Kevin P. Bruen» auf die Agenda gesetzt. Noch in diesem Herbst will der Supreme Court entscheiden, ob das Recht, in der Öffentlichkeit eine Waffe zu tragen, ausgeweitet wird.

Die Schlüsselfrage: Gibt es Beschränkungen für die Art der Schusswaffe, die ausserhalb des Hauses getragen werden kann?

Für Politikerinnen und Politiker beider Lager ist die Frage ein Dilemma: Einerseits gibt es eine starke Verbreitung von Waffen, deren Letalität viel höher ist, als sich die Gründungsväter der Vereinigten Staaten zum Zeitpunkt des zweiten Zusatzartikels der Verfassung wohl jemals gedacht hatten – andererseits sind da die Millionen wahlfreudigen Waffenbesitzer.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?