Es sind nicht nur Papierstapel und Aktenordner. Es sind die bebenden Stimmen der Zeugen, zum Teil tränenerstickt. Es sind bewegte Bilder der Videoaufnahme, die das Grauen wiederholen. Es sind Fotos. Und es ist jener erste Anruf, der nur Sekunden nach dem Absturz über die Notrufzentrale läuft. Jede dieser herzergreifenden Indizien hilft der Staatsanwaltschaft, den Verlauf des wohl schrecklichsten Unglück am Lago Maggiore zu rekonstruieren.
Es ist Pfingstsonntag, kurz nach zwölf Uhr Mittag. Die Gondel Nr. 3 ist fast am Ziel am Mottarone. Es fehlen noch wenige Meter. Piero Tarizzo steht schon am Perron der Bergstation bereit, die Schiebetür der Gondel zu öffnen. Da macht die Kabine einen Ruck. Er habe es laut reissen gehört, erzählt der Seilbahn-Angestellte den Carabinieri, und dann habe er sofort auf die Taste der Notbremse geschlagen. Vergebens. Denn das Bremssystem war durch eine Eisengabel absichtlich deaktiviert worden. Die Gondel rast rückwärts in ihr Unglück.
Die ersten Informationen zum Unglück sind vage und ungenau
24 Sekunden, eine gefühlte Ewigkeit, hält die Videoüberwachung an Bord der Gondel fest, wie die 15 Passagiere starr vor Entsetzen sich aneinander festklammern. Die Aufnahme läuft, bis die Gondel von Tragseil geschleudert wird und 54 Meter in die Tiefe stürzt. «Die Gondel war enorm schnell, schwang auf dem Tragseil zweimal auf und ab», erzählt ein amerikanischer Tourist gegenüber La Stampa. Dann sei sie wie bei einem Trampolin in die Höhe geschnellt und im hohen Bogen abgestürzt.
Augenzeugen schlagen Alarm. Nur Sekunden nach dem Absturz gehen die ersten Meldungen in der Notruf-Zentrale ein. Verzweifelt versucht die Telefonistin, die Informationen an die Rettungsdienste weiterzuleiten. «Corriere della Sera» veröffentlicht den Mitschnitt. «Es ist eine Gondel abgestürzt. Wir wissen nicht wo. Welch ein Chaos», sagt die Stimme auf dem Band, «vielleicht ist der Aufprall oben an der Bergstation passiert. Es ist nicht klar. Sie haben gesagt, unten an der Station am Piazzale Lido. Aber es ist nicht dort.»
Rettungsfahrzeuge und Helikopter rücken aus
Die Dame in der Zentrale rätselt weiter. Inzwischen ist neben Carabinieri und Bergrettung auch die Feuerwehr zugeschaltet. «Die Gondel ist mitten in den Wald gestürzt», heisst es wenig später im Notruf. «Aber wir wissen nicht, wo genau. Es schaut so aus, als wäre die Kabine zu Fuss schwer zu erreichen.» Dann sagt die Stimme: «Im Inneren der Kabine waren mindestens sechs Menschen. Sie sind sicher sehr schwer verletzt. Ich halte euch auf dem Laufenden.» Die ersten Fahrzeuge und ein Helikopter werden zum Unfallort geschickt.
Hektisch und konfus geht es auch bei der Polizei weiter. «Bleibt in der Gegend von Stresa. Sowie ich neue Informationen habe, gebe ich euch Bescheid. 118 ist in der Linie. Ich melde mich wieder», hört man einen Beamten seine Kollegen anweisen.
In einem Umkreis von 30 Metern lagen Leichen
Schliesslich erreichen die Rettungsdienste den Absturzort. «Wir sind dem Verlauf des Seilbahnseils gefolgt. Das Gelände war sicher 80 Grad steil. Dann sahen wir das Wrack der roten Gondel», berichtet Cristiano L`Altrella. Der Anblick ist ein Schock. In einem Umkreis von 30 Metern liegen Menschen. Fünf sind noch in der Kabine. «Wir haben ein Schlachtfeld vorgefunden», so der Einsatzleiter der freiwilligen Feuerwehr, «überall am Hang lagen Körper von Kindern, Frauen und Männern. Ein Mann ist in meinen Armen gestorben. Das, was ich gesehen habe, werde ich nie vergessen.»
14 Menschen starben an jenem sonnigen 23. Mai 2021. 13 waren auf der Stelle tot. Zwei Buben (5 und 6) werden mit dem Helikopter ins Spital nach Turin geflogen. Der ältere der beiden stirbt neun Stunden später. Nur der kleine Eitan überlebt schwer verletzt das Unglück. Er ist Vollwaise. Seit gestern weiss er, dass er seine Eltern, das zweijährige Brüderchen und seine Urgrosseltern nie mehr wiedersehen wird.