Die australische Schlafexpertin Carmel Harrington hat Jahrzehnte ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit der Erforschung des plötzlichen Kindstods gewidmet.
Angetrieben wurde sie durch einen Schicksalsschlag: 1991 verlor sie ihren Sohn Damien kurz vor seinem zweiten Geburtstag durch den plötzlichen Kindstod. Ein bis dato unerklärliches Phänomen. Wie aus dem Nichts hören kleine Kinder auf zu atmen – und sterben.
Rund 30 Jahre später gelingt ihr nun der wissenschaftliche Durchbruch, der möglicherweise zur Vorbeugung bei gefährdeten Babys dienen könnte: Harrington und ihr Forscherteam haben den ersten biochemischen Marker identifiziert, der die Anfälligkeit eines Babys für plötzlichen Kindstod anzeigt, während es noch lebt.
Wichtiger Botenstoff im Gehirn
Die in der Zeitschrift «eBioMedicine» veröffentlichte Studie ergab, dass die Konzentration des Enzyms Butyrylcholinesterase (BChE) ein möglicher Grund für den plötzlichen Kindstod ist. Bei dem Enzym handelt es sich um einen Botenstoff im Gehirn, der dafür sorgt, dass Kinder aufwachen, wenn die Atmung aussetzt.
Harrington stellte fest, dass die BChE-Konzentration bei Babys, die an plötzlichem Kindstod starben, deutlich niedriger war als bei lebenden Kontrollpersonen und anderen verstorbenen Babys.
«Babys haben einen sehr wirksamen Mechanismus, um uns mitzuteilen, wenn sie nicht glücklich sind. Wenn ein Baby mit einer lebensbedrohlichen Situation konfrontiert ist, etwa Atemnot während des Schlafs, weil es auf dem Bauch liegt, wird es normalerweise wach und schreit», erklärt Harrington laut dem Sydney Children's Hospital Network. Ihre Forschungsergebnisse zeigen nun, dass manche Babys nicht so stark auf diese Erregung reagieren. «Dies wurde schon lange vermutet, aber bisher wussten wir nicht, was die Ursache für die fehlende Erregung ist.»
Test soll Risiko zeigen
Harrington will nun an einem Bluttest für Babys arbeiten, um das Risiko für plötzlichen Kindstod zu ermitteln. «Es gibt noch viel zu tun! Das ist nur das Ende des Anfangs. Wir müssen noch viel mehr verstehen, schnelle Tests entwickeln und eine Behandlungsmethode», sagt sie zu «Bild». «Es ist grossartig, dass wir jetzt mit lebenden Babys arbeiten – und dafür sorgen können, dass sie am Leben bleiben.»
Nach dem Tod ihres Sohnes krempelte Harrington ihr ganzes Leben um. «Ich habe einen Abschluss in Biochemie, habe mich dann aber zur Juristin ausbilden lassen, weil es in Australien ziemlich schwierig ist, angemessene Mittel für wissenschaftliche Forschung zu bekommen.»
Noch als Anwältin tätig, verbrachte sie angesichts der Tragödie zuerst viel Zeit damit, eigene Nachforschungen anzustellen und mit Experten zu sprechen. «Mir wurde klar, dass mir niemand sagen konnte, warum das passiert war. Es gab keine Antworten.»
So viele Fälle gibt es in der Schweiz
Angetrieben von Damiens Schicksal machte es sich Harrington schliesslich zur Aufgabe, an die Universität zurückzukehren, um einen Doktortitel im Bereich Kinderschlaf zu erwerben, damit sie sich auf das Phänomen des plötzlichen Kindstods konzentrieren konnte.
Heute ist Harrington eine renommierte Schlafexpertin und arbeitet mit der Universität Sydney und dem Kinderspital Westmead zusammen, um entsprechende Forschungsarbeiten zu finanzieren.
Die Fälle von plötzlichem Kindstod konnten in den letzten Jahrzehnten bereits deutlich reduziert werden, indem den Eltern konsequent empfohlen wird, die Babys in Rückenlage ins Bett zu legen. So wurden 1995 in der Schweiz noch 54 Fälle von plötzlichem Kindstod bei Säuglingen verzeichnet. 2019 waren es laut Angaben des Bundesamtes für Statistik nur noch deren sieben.