Die Kinder spielen nicht, sie reden nicht, sie verweigern sogar Essen und Trinken, sie liegen nur noch und lassen ihren Ausscheidungen freien Lauf: In Schweden ist in den vergangenen Jahren eine mysteriöse Krankheit bei Flüchtlingskindern festgestellt worden. Man nennt sie das Resignationssyndrom oder auch das Rückzugssyndrom.
Der Verlauf ist immer gleich: Zuerst werden die Kinder ängstlich und depressiv, hören auf, mit andern zu spielen. Schliesslich ziehen sie sich in ihr Bett zurück, um nur noch vor sich hin zu vegetieren. Sie brauchen Windeln, teilweise müssen sie mit Sonden über Jahre künstlich ernährt werden.
Die Forscher standen vor einem Rätsel. Obwohl die Kinder mit geschlossenen Augen im Bett liegen, sind sie gemäss ihren Hirnmessungen wach.
Wie in einer Glasbox im Meer
Die irische Neurologin Suzanne O’Sullivan ist der rätselhaften Krankheit auf den Grund gegangen. Bei 169 untersuchten Kindern stellte sie eine Gemeinsamkeit fest: Es sind alles Jesiden aus dem kriegsgeplagten Syrien, deren Asylgesuch abgelehnt worden war. Kinder anderer Herkunft sind vom Syndrom nicht betroffen.
Kinder, die wieder ins Leben zurückgefunden hatte, beschrieben ihre Erfahrungen so: «Ich hatte das Gefühl, in einer Glasbox mit zerbrechlichen Wänden tief im Meer zu sein. Wenn ich spreche oder mich bewegen würde, gäbe es eine Vibration, die das Glas sprengen würde. Das hereinströmende Wasser würde mich töten.»
O'Sullivan kam zum Schluss, dass die Krankheit psychosomatisch ist und dass psychosomatische Krankheiten für einen Betroffenen genauso echt sein können wie leichter identifizierbare Krankheiten. «Der Körper ist das Sprachrohr des Geistes», schreibt O’Sullivan in ihrem Untersuchungsbericht.
Die These der Forscherin ist: Das Resignationssyndrom wird ebenso von den Eigenschaften einzelner Kulturen wie auch von der menschlichen Biologie beeinflusst.
Kehrtwende in Schweden
Dass das Syndrom speziell in Schweden auftaucht, hängt möglicherweise mit der Einwanderungspolitik zusammen. Anfangs wurden die Migranten von den Behörden und vielen Schweden mit offenen Armen empfangen. Allmählich aber drehte die nationale Stimmung: Die Willkommenen wurden plötzlich zu Abgelehnten.
Das Syndrom kennt man in Schweden bereits von Flüchtlingskindern aus dem ehemaligen Jugoslawien, denen in den 1990er-Jahren die Ausschaffung drohte.
In Schweden redet man auch davon, dass die Kinder die Krankheit nur vortäuschten. O'Sullivan verneint: Kein Kind würde auch auf Druck der Eltern mehrere Jahre im Bett verbringen. (gf)