Schicksal zweier Ausreisser erschüttert Italien
Steckt eine Psychosekte hinter Tod und Verschwinden?

Zwei junge Männer verschwinden aus ihrem Elternhaus. Ihre Spur führt auch in die Schweiz. Und zu einer Sekte. Jetzt zieht die Polizei eine kopflose Leiche aus dem Fluss Po. Es ist einer der beiden Vermissten. Der Fall wird immer mysteriöser.
Publiziert: 19.04.2021 um 17:09 Uhr
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Aktualisiert: 20.04.2021 um 07:30 Uhr
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Seit Monaten suchen Behörden und Medien in Italien, aber auch in der Schweiz nach den Vermissten. Stefano B.* (†23, rechts) wurde mittlerweile tot geborgen, von Alessandro V.* (21) fehlt noch immer jede Spur.
Myrte Müller

Alessandro V.* (21) aus Sassuolo (I) verschwindet am Nachmittag des 5. Dezember 2020. Er rasiert sich im Bad die Koteletten, stopft Unterwäsche in den Rucksack. Sein Handy und sein Laptop lässt er in der Wohnung, wo er mit seinen Eltern lebt. Dann zieht er die Tür hinter sich zu – und ist wie vom Erdboden verschluckt.

Auch Stefano B.* (†23) aus Piacenza (I) bereitet seinen Abgang vor. Er räumt sein Zimmer auf, löscht alle Einträge von der Festplatte des PC und im Smartphone. Gut sichtbar legt er Pass und EC-Karte auf den Tisch. Dazu einen Abschiedsbrief. Darin hinterlässt er seiner kleinen Schwester sein Erspartes und schreibt: «Ich weiss, ihr werdet mein Verhalten nicht verstehen!». Stefano B. packt Boxer-Shorts in eine Tasche und ein Wörterbuch für Deutsch. Er nimmt Führerschein, Ausweis sowie Krankenkassen-Karte mit. Er gilt seit dem Abend des 8. Februars 2021 als vermisst.

Kopflose Leiche ist Stefano B.

Monatelang suchen italienische Behörden und Medien nach den Ausreissern. Die Familien wenden sich mit verzweifelten Appellen in TV-Sendungen an die Öffentlichkeit. Am Samstag, dem 17. April 2021, schockt ein grausiger Leichenfund Italien. Ein Fischer entdeckt den bäuchlings treibenden, stark verwesten Körper eines Mannes am Flussufer des Pos etwa 16 Kilometer von Piacenza entfernt. Der Kopf fehlt. Von den Wels-Fischen gefressen, vermutet die Polizei.

Die Beamten finden Ausweis und einen kleinen Brief in der Hosentasche. Beides steckt in einem wasserdichten Zellophan-Umschlag. Auf dem Zettel steht: «Es ist Suizid. Niemand hat mich zur Tat gezwungen.» Alles deutet darauf hin, dass der Tote Stefano B. ist. Ein DNA-Abgleich und eine Obduktion am Dienstag sollen Identität und Todesursache endgültig klären. Die Ermittler gehen von Suizid aus.

Besorgte Eltern glauben nicht an Suizid

Der Leichenfund bereitet Alessandros Familie grosse Sorgen. Ist ihr Bub noch am Leben? Auch die Eltern von Stefano B. sind beunruhigt. Sie glauben nicht daran, dass ihr Sohn sich das Leben nahm. Beide Familien, die inzwischen Kontakt miteinander haben, vermuten hinter den Schicksalen ihrer Kinder eine Psycho-Sekte.

Gekannt haben sich ihre Söhne nicht. Doch die Gemeinsamkeiten sind frappierend. Beide lebten bei den Eltern, suchten ihr Glück in der Schweiz. Alessandro hat in Zürich eine Tante, wollte dort nach einem Job schauen. Stefano hielt sich den Januar über in Zürich auf, suchte vergebens Investoren für ein Start-up-Projekt. Bei seiner Rückkehr, sei er verändert gewesen, sagt die Mutter in einem Interview mit «Libertà».

Steckt hinter Online-Kursen eine gefährliche Sekte?

Alessandro besucht im Internet Selbstfindung-Kurse. Eine junge Frau erzählt in der TV-Sendung «Chi l`ha visto» von ihren Erfahrungen mit den seltsamen Online-Kursen. Sie sei telefonisch aufgefordert worden, an einen geheimen Ort zu ziehen, einen Kittel zu tragen und alle persönlichen Kontakte abzubrechen. Sie habe sich dann zurückgezogen. Steckt hinter den Kursen eine gefährliche Sekte?

Auch Stefano ist im Netz unterwegs. Er fühle sich manipuliert, erzählt er seiner Mutter. «Unser Sohn war immer ein fröhlicher Mensch. Doch in den Tagen vor seinem Verschwinden war er verschlossen. Ich machte mir Sorgen», sagt Mutter Natascia. Sie glaube nicht an Suizid. Dazu gäbe es viel zu viele Ungereimtheiten.

*Namen bekannt

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