Der russische UN-Berater Boris Bondarew (41) ist zurückgetreten. In einer Stellungnahme, die die Genfer Organisation «UN Watch» zuerst veröffentlichte, lässt er verlauten: «20 Jahre lang habe ich als Diplomat gearbeitet und dabei verschiedene auslandpolitische Richtungsänderungen gesehen. Aber noch nie habe ich mich so für mein Land geschämt wie am 24. Februar dieses Jahres.» Der 23. Mai war dann der Tag, der das Leben von Bondarew wohl auf immer veränderte.
Vor dem Schreiben war Bondarew ein unbekannter Diplomat, der zuletzt als Botschaftsrat der russischen Mission bei der UN in Genf arbeitete. Seit dem Schreiben ist er weltbekannt. Zahlreiche Medien nahmen den Brief auf, einerseits, weil er derart heftig mit seinem Land abrechnet, andererseits, weil er offenbar der erste russische Diplomat ist, der seinen Rücktritt aus dem diplomatischen Dienst verkündet. In jedem Fall der erste, der dies mit so markigen Worten macht. Auf Anfrage des «Tages-Anzeiger» sagte der 41-Jährige, er habe damit vielleicht «eine Dummheit» begangen. Aber der Entscheid sei in ihm seit dem 24. Februar gereift.
«Ich stellte intern die Frage: Wollt ihr Krieg?»
Weiter sagte Bondarew dem «Tages-Anzeiger» : «Die Zentrale in Moskau auferlegte uns schon im letzten Jahr, immer aggressivere Positionen zu vertreten.» Das sei für ihn zu einem immer grösseren Problem geworden. «Ich vertrete in Genf mein Land, aber muss als Diplomat mit den Organisationen vor Ort gleichzeitig versuchen, gemeinsame Lösungen zu finden. Also machte ich intern Gegenvorschläge, aber es wurde alles beiseitegeschoben und ignoriert. Im Dezember hielt ich es nicht mehr aus und stellte intern die Frage: Wollt ihr Krieg?» Ob und wie die Frage beantwortet wurde, ist nicht bekannt.
Bondarew sagt, er sei natürlich besorgt und habe Angst. Und er wisse nicht, wie es mit ihm weitergehe. Er müsse nun «irgendwo bleiben, für eine gewisse Zeit.» In keinem Fall würde er nach Russland gehen. Er hoffe auf Hilfe der Schweizer Regierung.
Aussenminister Ignazio Cassis (61) sagte am WEF in Davos, er kenne den Fall. Wenn Bondarew Asyl wolle, müsse er ein Gesuch stellen, das individuell geprüft werde. Er hätte dieselben Rechte wie alle anderen.
«Das grosse Z löscht alle Hoffnungen auf eine freie Gesellschaft aus»
Aber was hat Bondarew geschrieben, das ihn vom eifrigen Diplomaten innert Tagesfrist zur gefährdeten Person macht? Sein Abschiedsschreiben wurde unter anderem auf Twitter veröffentlicht. Bondarew findet, der Krieg sei nicht nur ein Verbrechen gegen die Ukrainer, sondern auch gegen Russen. «Das grosse Z löscht alle Hoffnungen auf eine prosperierende, freie Gesellschaft in unserem Land aus.»
Diejenigen, die diesen Krieg führen, würden nur eine Sache wollen: «Auf ewig an der Macht bleiben, in pompösen, geschmacklosen Palästen wohnen, auf Yachten segeln und unlimitierte Macht besitzen, sowie auf immer straffrei bleiben.» Um dies zu erreichen, wollen sie so viele Leben opfern, wie nötig sei. Tausende Ukrainer und Russen seien bereits dafür gestorben.
Weiter schreibt Bondarew: «Ich bedauere, zugeben zu müssen, dass die Lügen und die Unprofessionalität im russischen Aussenministerium in den vergangenen zwanzig Jahren stetig zugenommen haben.» In den letzten Jahren sei es aber sogar katastrophal geworden. Statt objektive Informationen, Analysen und Berichte stünde den Mitarbeitern heute Propaganda-Material zur Verfügung, wie es die Sowjet-Zeitungen in den 1930 Jahren abgedruckt hätten. «Ein System wurde erschaffen, das sich selber täuscht», schreibt Bondarew.
«Russland hat keine Verbündeten mehr»
Der UN-Berater spricht in seinem Abschiedsbrief speziell über seinen Chef, Aussenminister Sergei Lawrow (72): «In 18 Jahren wurde er vom gut ausgebildeten Intellektuellen, von dem Kollegen viel hielten, zu einem Menschen, der dauernd widersprüchliche Aussagen macht und der Welt mit Nuklearwaffen droht!»
Heute ginge es im Aussenministerium nicht mehr um Diplomatie. Es gehe nur noch um Lügen, Hass und Kriegstreiberei. «Russland hat keine Verbündeten mehr, und niemand ist dafür verantwortlich zu machen, ausser seine eigene rücksichtslose Politik.» Bondarew bestätigte sein Schreiben gegenüber der Nachrichtenagentur Associated Press.
Als Reaktion auf Bondarews Brief forderte die Menschenrechtsorganisation Uno Watch alle anderen russischen Diplomaten bei den Vereinten Nationen – und weltweit – auf, seinem Beispiel zu folgen und zurückzutreten. Die russische Mission in Genf hat sich noch nicht zu Bondarews Rücktritt geäussert.
«Er hat die Handlungen der russischen Führung verurteilt»
Der Kreml hat sich nach der Kündigung eines russischen Diplomaten bei den Vereinten Nationen in Genf von dem Mann distanziert. «Man kann hier wahrscheinlich nur sagen, dass Herr Bondarew nicht mehr zu uns gehört – vielmehr, dass er gegen uns ist», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Dienstag in Moskau nach einem Bericht der Nachrichtenagentur Interfax.
«Er hat die Handlungen der russischen Führung verurteilt – und die Handlungen der russischen Führung werden praktisch von der gesamten Bevölkerung unseres Landes unterstützt. Das bedeutet, dass sich dieser Herr gegen die allgemein vorherrschende Meinung unseres Landes ausgesprochen hat.»