Frankreich hat gewählt. Seit gestern ist klar, dass Präsident Emmanuel Macron (44) auch die nächsten fünf Jahre Hausherr im Elysée-Palast bleibt. Er ist der erste Präsident seit 2002, der die Wiederwahl geschafft hat.
Macrons Gegnerin, Marine Le Pen (53), hat wie schon 2017 das Nachsehen. Dennoch hängt ein Schatten über Macrons Sieg. Denn obwohl Le Pen auch dieses Mal klar verloren hat, dürfte sie die Niederlage sicherlich weniger schmerzen als noch vor fünf Jahren.
Der Grund: Ihr Wähleranteil steigt von Wahl zu Wahl. Holte sie 2017 noch 33 Prozent der Stimmen, so waren es bei der gestrigen Wahl bereits knapp 42 Prozent. Das entspricht gut 13 Millionen Wählerstimmen.
Zu allem Erstaunen holte Le Pen, die am rechten Rand der Politik zu verorten ist, auch viele Stimmen aus dem linken Lager, wie das Nachrichtenmagazin «Profil» berichtet. Wie passt das zusammen? Es ist eine der Hauptfragen, die Politikexperten im Nachgang der Wahl beschäftigen.
Der Niedergang der Establishment-Parteien lockte viele Wähler zu Le Pen
Einer der Hauptgründe ist sicher, dass die traditionelle politische Landschaft Frankreichs implodiert ist. Bis 2017 waren es stets der «Parti Républicain» und der «Parti Socialiste», die um die politische Macht in Frankreich kämpften.
Einfach gesagt: Linke wählten die Sozialisten und Rechte die Republikaner. Dieses Gesetz gilt nicht mehr. Die ehemaligen staatstragenden Parteien spielen heute kaum noch eine Rolle.
Arbeiter, die früher konsequent links wählten, fühlen sich vom Parti socialiste schon lange nicht mehr vertreten. Viele von ihnen sind zu Marine Le Pen und ihrer Partei «Rassemblement National» übergelaufen.
Denn Le Pen vertritt neben ihrer rechtsextremen Politik auch linke Positionen. Sie hat sich im Wahlkampf beispielsweise konsequent gegen eine Erhöhung des Rentenalters auf 65 ausgesprochen. Auch der EU und dem Freihandel, von dem nicht alle Arbeiter gleichermassen profitiert haben, steht Le Pen äusserst kritisch gegenüber.
Zudem kommt, dass viele Französinnen und Franzosen derzeit überall mit Preiserhöhungen kämpfen. Die hohe Inflation und der Verlust der Kaufkraft machen ihnen das Leben schwer. Lebensmittel, Benzin und Energiekosten, alles wird teurer. Das hat Le Pen früh erkannt und die Kaufkraft zum Hauptthema ihrer Kampagne gemacht. Bei traditionell linken Wählern kam das gut an.
Für viele Linke ist «der Präsident der Reichen» unwählbar
Das grosse Problem für viele linke Wähler war aber, dass für sie keiner der beiden Kandidaten wirklich in Frage kam. Im ersten Wahlgang war das noch kein Problem. Eine grosse Mehrheit von ihnen wählte den Linksaussen-Kandidaten Jean-Luc Mélenchon (70). Mit 21,7 Prozent der Stimmen erreichte er den dritten Platz und verpasste den Einzug in den zweiten Wahlgang nur knapp.
Im zweiten Wahlgang wählten dann immerhin 16 Prozent der Mélenchon-Wähler Marine Le Pen. 51 Prozent kündigten an, einen leeren Wahlzettel in die Urnen einzuwerfen. Mélenchon hatte seine Anhänger zwar aufgefordert, nicht für Le Pen zu stimmen, eine Wahlempfehlung für Macron blieb allerdings aus.
Ein weiterer wichtiger Grund für Le Pens Zuwachs an linken Wählern hängt direkt mit Macron zusammen. Er hat in seiner ersten Amtszeit viele von ihnen gegen sich aufgebracht. Er schaffte die Vermögenssteuer ab und beschloss die Kürzung des Wohngeldes für Einkommensschwache.
Dazu kamen einige zweifelhafte Äusserungen von ihm über «erfolgreiche Menschen und Menschen, die nichts sind». Macron hat daher heute bei vielen den Ruf eines arroganten und abgehobenen Staatsoberhauptes. «Präsident der Reichen» nennen sie ihn auch.
Proteste nach dem Ausgang der Präsidenschaftswahlen
Die Gelbwesten-Proteste, die im November 2018 aufgrund der geplanten Steuererhöhung auf Benzin und Diesel ausbrachen und bei denen auch viele Linke mitmarschierten, haben gezeigt, wie viele sich von der Regierung in Paris im Stich gelassen fühlen. Monatelang demonstrierten sie in ganz Frankreich. Zu Spitzenzeiten liefen 300'000 Personen mit.
Nun scheint es eine Rückkehr der Proteste zu geben. Viele, die weder Emmanuel Macron noch Marine Le Pen für eine geeignete Wahl hielten, machten ihrem Unmut am Sonntagabend auf der Strasse Luft. In mehreren Städten Frankreichs kam es zu Zusammenstössen zwischen linken Gruppen, der Gelbwesten-Bewegung und der Polizei.
In Paris blieben grössere Ausschreitungen aus, in Lyon allerdings musste die Nationalpolizei einschreiten, nachdem Demonstranten die Gemeindepolizei mit Feuerwerkskörpern beschossen hatten. (ced)