Hunderte drängen sich in die drei Gerichtssäle. Im Hof des Justizpalastes von Genua (I) sitzen die Richter. Die Verhandlung wird über Video übertragen. Zu viele wollen am Jahrhundert-Prozess teilnehmen: Angehörige der Toten, Anwohner des Unglücksortes, Kleinunternehmer, die an jenem denkwürdigen Tag ihre Existenz verloren.
Die Bilder haben sich in die Seele Italiens eingebrannt: Am 14. August, um 11.35 Uhr, stürzt bei strömenden Regen der westliche der drei Pylone der vierspurigen Schrägseilbrücke ein. Ein etwa 250 Meter langes Teilstück der Stadtautobahn kracht fast 50 Meter in die Tiefe. 35 PKWs und Lastwagen werden mitgerissen. 43 Menschen sterben. Trümmer krachen auf Wohnhäuser. Hunderte sind über viele Monate obdachlos. Der Kollaps der Morandi-Brücke wird zum Mahnmal italienischer Misswirtschaft, Schlamperei und Verantwortungslosigkeit.
Vorwurf der mehrfachen fahrlässigen Tötung
Fast vier Jahre nach der Katastrophe reisst der Mammutprozess in der ligurischen Hafenstadt alte Wunden wieder auf. Ab dem 7. Juli 2022 müssen sich 59 ehemalige Top-Manager des damaligen Autobahnbetreibers ASPI, des Wartungsunternehmens SPEA und Ex-Funktionäre des Verkehrsministeriums in Rom vor Gericht verantworten. Die Vorwürfe: Mehrfache fahrlässige Tötung, Verstoss gegen die Sicherheit im Strassenverkehr, Falschaussage und Unterlassung von Amtshandlung. Ihre Schuld wiegt schwer.
Denn, so definiert es einer der Ankläger, die Morandi-Brücke sei eine Zeitbombe gewesen. «Man hörte das Ticken, wusste aber nicht, wann die Bombe hochgeht», sagt Staatsanwalt Walter Cotugno. Zwischen der Einweihung im Jahr 1967 der Autobahnbrücke bis zum Kollaps, 51 Jahre lang also, seien nicht die minimalsten Wartungsarbeiten vorgenommen worden, um die Tragseile des Pylones Nr. 9 zu verstärken, so der Staatsanwalt weiter. Er ist ist überzeugt: Die Verantwortlichen wussten von der Einsturzgefahr, nahmen sie in Kauf, um Geld für die Dividenden der Aktionäre zu sparen. Es seien Sicherheitsanleitungen ignoriert und Berichte gefälscht worden, sagt auch Cotugnos Kollege Massimo Terrile.
Mammutprozess wird Jahre dauern
Es wird viele Jahre dauern, ehe die aufgerissenen Wunden wieder heilen können. 600 Nebenkläger wollen Gerechtigkeit. Das Gericht wird 179 Zeugen und Gutachter befragen. 200 Anwälte wollen Gehör. Nicht Teil der Prozesses sind die Unternehmen ASPI und SPEA. Sie haben sich mit einem Vergleich und 30 Millionen Euro heraus kaufen können.
Die meisten Angehörigen der Toten wurden von den Unternehmen entschädigt. Nur zwei Familien lehnten ab, darunter jene von Roberto Battiloro. Dem Vater eines 29-jährigen Todesopfers wurde eine Million Euro geboten. «Das Leben meines Sohnes hat keinen Preis. Ich will einen gerechten Prozess», sagt er italienischen Medien.