Seit über einem halben Jahr demonstrieren in ganz Israel Hunderttausende Bürgerinnen und Bürger gegen umstrittene Regierungspläne. Nun wurde das Gesetz angenommen. 64 von 120 Abgeordneten stimmten dafür. Blick liefert einen Überblick über das Geschehen.
Worum geht es?
Die Knesset, das israelische Parlament, hat am Montag ein umstrittenes Gesetz angenommen. Es ermöglicht eine weitgehende Abschaffung der Gewaltenteilung und entzieht dem Obersten Gericht die Möglichkeit, Regierungsentscheidungen als «unangemessen» zu beurteilen und ausser Kraft zu setzen. Das Gesetz ist Teil einer grösseren Justizreform.
Da der Staat Israel über keine Verfassung, sondern eine Sammlung von Grundgesetzen verfügt, erfüllt das Höchste Gericht eine wichtige Rolle in der Wahrung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten.
Wer ist für das neue Gesetz?
Die Justizreform wurde in erster Linie von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (73) und seiner rechten Regierung gefordert. Ihrer Ansicht nach würde sich die Justiz zu sehr in politische Entscheidungen einmischen. Man wolle die Stellung des Parlaments und des Ministerpräsidenten stärken.
Doch Netanjahu könnte auch private Interessen verfolgen. Denn: Gegen ihn wurden mehrere Anklagen erhoben, unter anderem wegen Korruption. Eine Schwächung der Justiz könnte ihn schützen.
Was sagt die Opposition?
Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition blieben erfolglos. Das Parlament versuchte von Sonntag auf Montag in einer Marathonsitzung, einen Kompromiss zu finden. Staatschef Jitzchak Herzog (62) sagte: «Eine Einigung muss erzielt werden». Oppositionsführer Jair Lapid (59) schrieb auf Twitter: «Ich werde mein Möglichstes tun, um einen breiten Konsens für ein demokratisches und starkes Israel zu erreichen.» Doch dieser Versuch zeigt sich nun gescheitert.
Gegner der Reform halten die Pläne der Regierung als Gefahr für Israels Demokratie. Sie fürchten, dass das neue Gesetz Korruption und die willkürliche Entlassung oder Besetzung wichtiger Positionen begünstigt. Amit Becher, Vorsitzender der Rechtsanwaltskammer, kündigte bereits vor der Abstimmung an, bei einer Verabschiedung juristisch gegen das Gesetz vorzugehen.
Wie reagiert die Bevölkerung?
Am Samstag nahmen landesweit rund eine halbe Million Menschen an Protesten gegen die Justizreform teil. Auch am Sonntag und am Montag wurde protestiert. In Jerusalem campierten Gegner sogar vor der Knesset. Sie warnen vor der Einführung einer Diktatur.
Doch auch Befürworter zogen durch die Strassen. In Tel Aviv kamen am Sonntag Zehntausende von ihnen zusammen. Sie argumentieren mit einer Wiederherstellung des Gleichgewichts in der Gewaltenteilung.
Zudem will der Dachverband der Gewerkschaften (Histadrut), der rund 800'000 Mitglieder zählt, noch am Montag entscheiden, ob ein Generalstreik ausgerufen wird. Ein Zusammenschluss der 150 grössten Unternehmen des Landes rief am Montag bereits zum Streik aus.
Auch die israelische Ärztekammer plant, zu protestieren. Lediglich für medizinische Notfälle sowie die Versorgung in Jerusalem sollen Ausnahmen gemacht werden. Die Kammer vertritt nach eigenen Angaben etwa 95 % der Ärzte. Bereits letzte Woche kam es zu einem kurzem Streik, wie der «Guardian» berichtet. Es hiess, die Justizreform würde «das Gesundheitssystem zerstören.» Am Dienstag könnten sich den Ärzten nun rund 73 Prozent der Praktikantinnen und Praktikanten anschliessen, wie die Intern Doctors Organisation bekannt gibt.
Droht dem Militär nun ein Zusammenbruch?
Auch im Militär herrscht Chaos. Zunächst hatten rund 4000 Reservisten erklärt, den freiwilligen Militärdienst zu verweigern, sofern das Gesetz verabschiedet wird. Am Freitag hatten sich über tausend Reservisten der Luftwaffe dem Protest angeschlossen. Weitere zehntausend Dienstverweigerer kamen am Samstag hinzu. Am Sonntag gaben laut dem «Spiegel» dann auch aktive Soldaten bekannt, den Dienst verweigern zu wollen.
Der langjährige Mossad-Chef Yossi Cohen (61), der einst zu Netanjahus Vertrauten zählte, veröffentlichte daraufhin einen Aufruf, die Justizreform zu stoppen. Zudem wurde laut der Zeitung ein Brief veröffentlicht, den Hunderte Militärangehörige unterschieben. Auch sie warnten vor der Reform – vergeblich.
Da Israel in militärische Konflikte involviert ist, könnte ein Zusammenbruch des Militärs ernste Folgen haben. Generalstabschef Herzi Halewi (55) sagte, Israel sei dann «nicht mehr länger in der Lage, als Land in dieser Region zu existieren». Denn: Ein geschwächtes Militär würde Israels Feinden in die Hände spielen. (mrs)