Palästinensisches Terrornest – oder Opferstadt?
In Dschenin zeigt sich Netanjahus radikale Handschrift

Israels Armee marschiert in der nordpalästinensischen Stadt Dschenin ein. Ist das der Beginn eines neuen Krieges im Nahen Osten?
Publiziert: 04.07.2023 um 19:58 Uhr
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Aktualisiert: 04.07.2023 um 20:17 Uhr
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Ein Bewohner des Flüchtlingslagers in Dschenin schwenkt vor den israelischen Militärfahrzeugen die palästinensische und die syrische Flagge.
Foto: keystone-sda.ch
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

39 Jahre alt und unverheiratet: für die familienvernarrten Palästinenser ein No-Go. Doch an diesem Dienstag ist Ahmed Tobasi gottfroh, dass er weder Frau noch Kinder hat. «Ein Albtraum ist das hier. Kein Mensch kann so leben», ruft Tobasi ins Telefon zu Blick. Im Hintergrund Stimmengewirr, Chaos, weinende Frauen.

Tobasi lebt im Flüchtlingslager der nordpalästinensischen Stadt Dschenin. Seit der Nacht auf Montag ist das Lager Schauplatz der grössten israelischen Militäraktion gegen die Palästinenser seit der Niederschlagung der Zweiten Intifada vor rund 20 Jahren. Zehn Menschen kamen jetzt bei den Raketenangriffen und Kämpfen ums Leben, mehrere Dutzend wurden in den ersten 24 Stunden des Angriffs verletzt.

Die Gassen im Favela-artigen Flüchtlingslager sind vom Geröll der eingestürzten Häuser versperrt. Rund die Hälfte der etwa 20'000 Einwohner hat das Lager Hals über Kopf verlassen. Aber nicht ohne für jene vorzusorgen, die sich dem israelischen Einmarsch in die Quere stellen wollen. «Ihr könnt euch hier verstecken und durch die Hintertür fliehen, wenn sie kommen», steht auf einer handgeschriebenen Notiz an einer verlassenen Wohnung. «Im Kühlschrank findet ihr Essen und Bargeld.»

Im Visier: Terroristen und ein Kindertheater

Tobasi erzählt weiter: «Wir wussten nie, welches Haus die Raketen als Nächstes treffen. Wir hatten Todesangst.» Die Palästinensische Autonomiebehörde, die das Westjordanland verwaltet, hat wegen des Angriffs sämtliche Kommunikationskanäle zur israelischen Regierung abgebrochen.

Man wolle nur «terroristische Infrastruktur» aushebeln, liess Israel derweil verlauten. In Dschenin aber traf es nicht nur mutmassliche Gewalttäter, sondern auch das «Freedom Theatre». In der von einer Israelin gegründeten Institution lernten Kinder und Jugendliche, mit Gesang und Schauspiel ihre Traumata zu überwinden. Balladen statt Bomben, das war das Credo. «Israels Soldaten haben den Vorplatz des Theaters bombardiert und unseren technischen Leiter verhaftet», erzählt Tobasi, der im Theater Schauspielkurse gab. «Aus dem Haus steigt Rauch auf. Ich habe mich noch nicht wieder reingetraut.»

In Dschenin zeigt sich die Handschrift der neuen radikaleren Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu (73). Einige der Minister, die in seinem Kabinett Einsitz nahmen, machten nie einen Hehl daraus, dass sie die Palästinenser am liebsten alle aussiedeln und «unser Land zurückerobern» wollen. So sagte das etwa Itamar Ben Gvir (47), Minister für Nationale Sicherheit.

USA streichen Uni-Gelder für Israel

Seit dem Antritt von Netanjahus neuem Kabinett dreht sich die Gewaltspirale in Israel und Palästina so schnell wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Auf terroristische Anschläge folgen Überfälle von israelischen Siedler-Gruppen auf palästinensische Dörfer im besetzten Westjordanland. Die radikalen Töne aus Netanjahus Amtsstuben sorgen seit Monaten für Massenproteste in der israelischen Metropole Tel Aviv.

Auch international kommt Israels Regierung zusehends unter Druck. Vergangene Woche beschlossen die USA, die Israel jährlich mit knapp vier Milliarden Dollar unterstützen, dass man keine Gelder mehr für Universitäten und Forschungsprojekte in den völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen im palästinensischen Westjordanland sprechen werde.

Die aktuelle Lage zeigt: Im Nahen Osten herrscht akute Kriegsgefahr – auch wenn Netanjahu am Dienstag ankündigte, dass die Mission in Dschenin bald beendet sei. Er sagte aber auch: «Die Aktion ist kein einmaliger Vorgang, wir werden so lange wie nötig weitermachen.»

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