Sie sind wütend – und wie. Mehr als Tausend Demonstranten sind am Mittwoch in Kasachstan auf die Strasse gegangen. Die Menge versammelte sich auf einem Platz in der Stadt Almaty nahe dem Sitz der örtlichen Verwaltung. Die Polizei setzte Blendgranaten und offenbar auch Tränengas gegen die Demonstranten ein. Berichten zufolge sind einige von ihnen in das Rathausgebäude eingedrungen.
Sowohl das Büro des Bürgermeisters als auch die Residenz von Präsident Kassym-Schomart Tokajew (68) brannten. Bei Ausschreitungen in Almaty hat es Berichten zufolge Dutzende Tote gegeben. Menschen hätten in der Nacht zum Donnerstag versucht, verschiedene Polizeigebäude zu stürmen, zitierte der kasachische Fernsehsender Khabar 24 einen Sprecher des Innenministeriums, wie die russische Staatsagentur Tass meldete. Dabei seien «Dutzende Angreifer eliminiert» worden. Deren Identitäten würden nun ermittelt.
Offiziellen Angaben zufolge wurden bisher 13 Sicherheitskräfte getötet. Zwei Leichen seien zudem geköpft aufgefunden worden, berichteten kasachische Medien am Donnerstag unter Berufung auf das Staatsfernsehen. Bei den Unruhen wurden demnach landesweit mehr als 1000 Menschen verletzt. 400 Menschen seien in Krankenhäuser gebracht worden, 62 seien auf Intensivstationen. Klare offizielle Angaben zu möglichen zivilen Todesopfern gab es bisher nicht.
Keine «Bedrohung, sondern Untergrabung der Integrität des Staates»
In der vergangenen Nacht schritt das Militär ein. Seither laufen an verschiedenen Stellen der Stadt Almaty in Zentralasien Einsätze gegen Demonstranten, die Berichten zufolge auch bewaffnet sein sollen. Einwohner seien aufgerufen worden, an sicheren Orten zu bleiben und Strassen zu meiden.
Es handele sich «nicht um eine Bedrohung, sondern um eine Untergrabung der Integrität des Staates», sagte Präsident Kassym-Jomart Tokajew in der Nacht zum Donnerstag in einer Fernsehansprache.
«Terroristische Banden» hätten sich in der Grossstadt Almaty einen Kampf mit Fallschirmjägern geliefert. Der Flughafen der Stadt sei befreit. Zuvor mussten Mitarbeiter des kasachischen Hauptflughafens fliehen, weil Demonstranten das Terminal betreten hatten. Derweil hat ein von Russland geführtes Militärbündnis Hilfe zugesagt. Die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit werde auf Anfrage Kasachstans Friedenstruppen entsenden, schrieb der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan (46) in der Nacht zum Donnerstag auf Facebook. Armenien ist ebenfalls Mitglied in dem Militärbündnis.
Über 200 Festnahmen und mehrere verletzte Polizisten
Die Proteste gegen eine Erhöhung der Gaspreise in Kasachstan haben eine schwere Krise in dem zentralasiatischen Land ausgelöst. Präsident Kassym-Schomart Tokajew entliess am Mittwoch die Regierung und verhängte in Teilen des Landes den Ausnahmezustand. Bei den teils gewaltsamen Demonstrationen wurden nach Angaben der Regierung mehr als 200 Menschen festgenommen und Dutzende Polizisten verletzt.
Das Innenministerium warf den Demonstranten vor, die «öffentliche Ordnung gestört» zu haben. Es sei zu «Provokationen» und Strassenblockaden gekommen. 95 Polizisten seien verletzt worden. Sowohl Telefon- als auch Internetverbindungen waren am Mittwoch unterbrochen, Journalisten und Bürger waren von der Aussenwelt abgeschnitten. Der Blackout diene offenbar dazu, die Berichterstattung über «die eskalierenden Anti-Regierungs-Proteste» einzuschränken.
Mehr als 5000 Demonstranten am Dienstag unterwegs
Steigende Preise für Autogas hatten am Wochenende Unruhen in Kasachstan ausgelöst. Die Proteste begannen am Sonntag in Schangaösen im Zentrum der westlichen Region Mangystau und weiteten sich auf andere Teile des Landes aus. Versuche der Regierung, die Proteste durch eine Senkung des Gaspreises einzudämmen, schlugen fehl.
Am Dienstag gingen in der Wirtschaftsmetropole Almaty im Südosten des Landes mehr als 5000 Menschen auf die Strasse, um ihrem Ärger über die Regierung Luft zu machen. Einige Demonstranten griffen Autos an und lieferten sich Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften, die Blendgranaten und Tränengas einsetzten, wie Reporter der Nachrichtenagentur AFP berichteten.
Ausnahmezustand ausgerufen
Als Reaktion auf die Proteste hatte Staatschef Tokajew am Mittwochmorgen die Regierung entlassen. Er habe den Rücktritt des Kabinetts von Regierungschef Askar Mamin akzeptiert, hiess es auf der Website des Präsidenten. Dessen bisheriger Stellvertreter Alichan Smailow soll die Regierungsgeschäfte kommissarisch übernehmen, bis eine neue Regierung gebildet wurde.
Vor der Entlassung der Regierung hatte Tokajew den Ausnahmezustand für Mangystau und Almaty ausgerufen. Die dortigen Behörden verhängten eine nächtliche Ausgangssperre.
Messenger-Apps wie Telegram, Signal oder Whatsapp funktionierten am Mittwoch weiterhin nicht. Zwei unabhängige Nachrichtenwebsites, die über die Demonstrationen berichtet hatten, waren nach wie vor blockiert.
Unmut gegen früheren Staatschef
Grössere Proteste in dem autoritär regierten Land sind selten. Tokajew rief die Bevölkerung in einer auf Facebook veröffentlichen Ansprache zur Ruhe auf und warnte vor einem «Konflikt».
Der Unmut der Demonstranten richtete sich auch gegen Tokajews Vorgänger, den langjährigen Staatschef Nursultan Nasarbajew. Der 81-Jährige stand von 1989 bis 2019 an der Spitze Kasachstans und kontrolliert die Politik des zentralasiatischen Landes als «Führer der Nation» nach wie vor. Der Titel sichert ihm umfangreiche Privilegien und Immunität vor Strafverfolgung.
«Wir hoffen auf eine rasche Normalisierung der Lage»
Russland hat angesichts der massiven Ausschreitungen bei den Protesten in Kasachstan in Zentralasien zu einer friedlichen Lösung aufgerufen.
Probleme müssten «im Rahmen der verfassungsmässigen und gesetzlichen Bestimmungen und durch Dialog und nicht durch Unruhen auf den Strassen» gelöst werden, teilte das Aussenministerium in Moskau am Mittwoch mit. «Wir hoffen auf eine rasche Normalisierung der Lage.» Man verfolge die Situation.
Ähnliche äusserte sich das türkische Aussenministerium. Es teilte mit: "Wir glauben fest daran, dass die kasachische Regierung diese Krise überwinden wird.» (AFP/SDA/jmh/gin/kes)