Ohne Beruhigungspillen hätte sich Olga (50) gar nicht erst hierhin ins Café am Stadtrand von Kiew gewagt. Der gewaltsame Tod ihres Schwiegersohns, die ständigen Raketenalarme, die verwitwete Tochter allein mit den beiden kleinen Kindern, der Mann irgendwo im besetzten russischen Gebiet: «Ich könnte schreien! Warum passiert das alles? Warum passiert das uns?», fragt Olga mit leerem Blick und gequältem Lächeln.
Olga ist eine von Hunderttausenden Ukraine-Flüchtlingen, die nach ihrer Flucht ins Ausland bereits wieder in die gefährliche Heimat zurückgekehrt sind. Mehr als acht Millionen Menschen mussten seit dem 24. Februar 2022 aus dem Land fliehen – die grösste Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Gut sechs Millionen haben die Grenze seither wieder in Richtung Ukraine überquert. So wie Olga.
Zu Fuss mit den Einkaufstaschen in den 23. Stock
Erst im März floh sie mit ihrem Sohn aus der hart umkämpften Ostukraine. Den Namen ihrer Stadt will sie genauso wenig in der Zeitung lesen wie ihren Nachnamen: «Mein Mann ist immer noch in unserer besetzten Heimat. Ich will ihn nicht gefährden.» Ganz allein verliess sie damals die Ukraine – das erste Mal überhaupt in ihrem Leben – und landete nach einer langen Reise durch Polen und Deutschland in Basel.
«Ich habe zuerst gar nicht kapiert, dass das schon die Schweiz ist», erzählt Olga. Im Café wird es plötzlich dunkel und still: Stromausfall. Draussen ertönen die Sirenen. Olga hebt nur leicht die Schultern unter ihrem selbstgestrickten Pulli. «Gehört halt dazu.» Nach zwei, drei Stunden komme der Strom schon wieder. «Nur der Lift in unserem Block funktioniert gar nicht mehr», sagt Olga. Den Weg vom 23. Stock hinunter ins Café und wieder hinauf – an manchen Tagen mit schweren Wasserbehältern und Lebensmitteltaschen – geht sie seit Monaten zu Fuss.
In der Schweiz landete Olga bei einer Familie in Dietikon ZH. «Wunderbare Leute», schwärmt die Ukrainerin. Sie versuchte, Deutsch zu lernen und einen Job zu finden. Ersteres ging harzig, das Zweite klappte nicht. Und als dann ihr Schwiegersohn Alexej (†30) an der Front bei Sewerodonezk ums Leben kam, packte sie die Verzweiflung. «Seinen kleinen Sohn hat er nur ein einziges Mal in die Arme nehmen können, bevor er gefallen ist. Die Feinde töten unsere besten Leute – jeden Tag», sagt Olga mit ihrem Beruhigungspillen-Lächeln.
«Kommt zurück, wir brauchen euch!»
Olga hielt es nicht mehr aus in der schönen Schweiz mit all den hilfsbereiten Menschen und all den schönen Blumen. «Ich bin lieber nützlich als in Sicherheit», sagte sie sich und reiste zurück zu ihrer verwitweten Tochter. «Ich bin innerlich viel ruhiger hier, auch wenn es viel gefährlicher ist als in der Schweiz», erzählt sie. «Ich bin Ukrainerin. Ich gehöre in die Ukraine. Ich muss für meine Kinder da sein.»
Das sieht nicht nur Olga so. Gut jeder zehnte Ukraine-Flüchtling in der Schweiz hat das Land bereits wieder verlassen. Aktuell sind noch rund 77'000 Menschen aus dem Kriegsland hier. Mehr als 9000 haben unser Land bereits wieder verlassen.
Olga hofft, dass es ihr bald alle Geflohenen gleichtun. Laut einer Erhebung der Uno wollen acht von zehn Ukraine-Flüchtlingen dereinst wieder in ihre Heimat zurückkehren. Doch das reiche nicht, sagt Olga. «Wir brauchen hier jede und jeden Einzelnen, um das Land wieder aufzubauen.» Ihre Botschaft an ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger: «Nach dem Krieg müsst ihr alle nach Hause kommen! Ohne euch schaffen wir es nicht.»