Ohrfeige für die Angehörigen der Opfer des Gondel-Dramas
Richterin entlässt alle Seilbahn-Verantwortlichen aus der Haft

Die Entscheidung empört. Obwohl die Ursache des verheerenden Unglücks bei der Seilbahn von Stresa (I), das 14 Tote forderte, auf menschliches Versagen zurückzuführen ist, sind Direktor und Wartungstechniker wieder frei und der technische Leiter darf in den Hausarrest.
Publiziert: 30.05.2021 um 16:48 Uhr
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Noch immer ist die Schuldfrage nicht geklärt. Zwar steht fest, dass das Bremssystem der Gondel absichtlich ausser Kraft gesetzt wurde. Doch warum das Zugseil riss, bleibt rätselhaft.
Foto: AP
Myrte Müller

Es ist ein herber Rückschlag für die Staatsanwaltschaft – und eine Ohrfeige ins Gesicht der Opferangehörigen. Eine Richterin veranlasste die sofortige Freilassung von Direktor Luigi N.* und Ingenieur Enrico P.*, der für die Wartung der Gondelanlage zuständig war. Auch der Hauptverdächtige Gabriele T. ist wieder auf freiem Fuss. Der technische Leiter des Seilbahnbetriebs bleibt allerdings im Hausarrest. Kommen die Verantwortlichen für das schlimmste Unglück am Lago Maggiore seit Jahren mit einem blauen Auge davon?

Den drei Männern hatte Anklägerin Olimpia Bossi vorgeworfen, die defekte Notbremse an der Gondel am Pfingstsonntag wissentlich mit einer sogenannten Gabel ausser Kraft gesetzt zu haben, um sich die Reparatur zu sparen. So startete die Gondel von Stresa in Richtung Mottarone (1491 m ü. M.) am Mittag ohne funktionierende Notbremse. An Bord: 15 Passagiere. Kurz vor der Bergstation riss das Zugseil. Die Gondel raste mit 100 km/h talwärts und flog beim ersten Mast vom Tragseil. Sie stürzte 54 Meter tief und zerschellte in unwegsamem Gelände. 14 Menschen starben. Nur ein kleiner Bub überlebte schwer verletzt. Er verlor fast seine ganze Familie (Blick berichtete).

Hätte das Seilbahnunternehmen die Notbremse nicht blockiert, wäre die Gondel zum Stillstand gekommen. Für die Staatsanwältin erfüllt das verantwortungslose Handeln den Tatbestand der schuldhaft verursachten Katastrophe, der mehrfachen fahrlässigen Tötung und Körperverletzung. In der Nacht auf Mittwoch wurden die drei Verantwortlichen verhaftet und verhört. Doch es war eine kurze Haft: Nur 90 Stunden lang waren die Verdächtigen hinter Gitter.

Zu wenige Indizien

Seit Sonntag sind Luigi N. und seine Mitarbeiter wieder frei. Und damit nicht genug: Der Direktor und der Ingenieur Enrico P. wurden am Samstag von der zuständigen Richterin sogar weitgehend reingewaschen. Es gebe zu wenige Indizien, die die beiden Männer mit dem Unglück in Verbindung brächten, heisst es in der 24-seitigen Begründung von Donatella Banci Buonamici. Die U-Haft sei übereilt erfolgt und ohne rechtliche Grundlage, zudem unnötig, da keine Fluchtgefahr bestehe, so die Untersuchungsrichterin weiter.

Donatella Banci Buonamici hatte sämtliche Angestellten des Seilbahnunternehmens befragt. Die Aussagen entlasteten offenbar den Chef der Seilbahn, belasteten umso mehr hingegen den technischen Leiter. Gabriele T. habe die zwei Gabeln bereits am 26. April, als die Gondel ihren Betrieb nach dem Lockdown wiederaufgenommen hatte, auf die Bremsvorrichtung setzen lassen, damit diese nicht mehr greifen konnte. Die Entscheidung habe er mit der Bemerkung begründet: «Was soll schon passieren?» Während der Verhöre habe Gabriele T. zudem versucht, die Schuld auch Luigi N. und Enrico P. zuzuschieben.

In der Nacht verhaftet und wieder entlassen

Doch sogar der Hauptverdächtige bleibt nicht in Haft. Er ist der Erste, der um 0.30 Uhr das Gefängnistor verlässt. Gefolgt von Ingenieur Enrico P. und schliesslich, gegen zwei Uhr morgens, ist auch der Direktor der Seilbahn wieder ein freier Mann. Die Haft dauerte nicht lange, wie die Staatsanwältin durchblicken liess. Die Entscheidung der Richterin kommentierte sie vor laufenden Kameras und Mikrofonen der internationalen Medien aber nicht. Die Ermittlungen gingen unermüdlich weiter. «Wir stehen erst am Anfang», sagt Olimpia Bossi.

Dafür reden die Anwälte umso mehr. «Jetzt müssen die wahren Schuldigen gefunden werden», sagt der Anwalt von Luigi N. gegenüber «La Stampa». Die Verhaftung sei erzwungen gewesen, so der Kollege, der den Ingenieur vertritt. Enrico P. erklärt unterdessen: «Das Unglück war nicht meine Schuld.» Zufrieden zeigt sich auch der Anwalt von Gabriele T.: «Die Haft erschien mir übertrieben. Ich hatte den Hausarrest vorgeschlagen. Und diesem Vorschlag ist die Richterin gefolgt.»

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