Der russische Journalist und Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow (60) hat davor gewarnt, die russische Propaganda über einen Atomwaffeneinsatz in der Ukraine auf die leichte Schulter zu nehmen. «Ich würde die Möglichkeit nicht ausschliessen, dass Atomwaffen eingesetzt werden», sagte Muratow am Dienstag bei einer Veranstaltung zum Internationalen Tag der Pressefreiheit vor Journalisten in Genf.
Ziel der derzeitigen Propaganda des Kreml sei es, den Einsatz von Atomwaffen für die russische Öffentlichkeit akzeptabler zu machen, warnte der Chefredaktor der unabhängigen Zeitung «Nowaja Gaseta» weiter. «Schon seit zwei Wochen hören wir von unseren Fernsehsendern, dass die Atomsilos geöffnet werden sollten», sagte er. «Und wir hören auch, dass diese schrecklichen Waffen eingesetzt werden sollten, wenn die Waffenlieferungen an die Ukraine fortgesetzt werden.»
Im Gegensatz zu den Behauptungen der Propaganda würde der Einsatz solcher Waffen «nicht das Ende des Krieges bedeuten». Muratow: «Es wäre das Ende der Menschheit.»
Farb-Attacke im Zug
Als die beängstigendste Entwicklung in Russland bezeichnete Muratow die «absolute, uneingeschränkte» Macht von Präsident Wladimir Putin (69). Sollte der Kreml-Chef den Einsatz von Atomwaffen beschliessen, «kann ihn niemand aufhalten. Weder das Parlament noch die Zivilgesellschaft noch die Öffentlichkeit».
Muratow war wegen seiner Verdienste um die Meinungsfreiheit im vergangenen Jahr gemeinsam mit der philippinischen Journalistin Maria Ressa (63) mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Ende März musste seine Zeitung ihr Erscheinen einstellen, nachdem sie von den Behörden wegen ihrer Berichterstattung über die russische Invasion in der Ukraine mehrfach verwarnt worden war.
Anfang April wurde er in einem Zug von einem unbekannten Täter angegriffen und mit Farbe überschüttet. «Die Augen brennen ganz fürchterlich», teilte Muratow im Kurznachrichtendienst Twitter mit. Auf einem Foto war zu sehen, wie sein Gesicht, Oberkörper und Arme mit roter Ölfarbe überdeckt waren.
Russland droht mit Mega-Waffe Poseidon
Der Chef-Propagandist der russischen Nachrichtenagentur Rossija Sewodnja, Dmitri Kisseljow (68), sprach erst diese Woche davon, dass sein Land eine Unterwasserdrohne besitze, die eine Flutwelle von bis zu 500 Metern Höhe auslösen und ganz Grossbritannien zerstören könne, ähnlich dem Meteoriteneinschlag im Film «Deep Impact» von 1998. Wegen der Strahlung würde sich Grossbritannien in eine radioaktive Wüste verwandeln.
Ob es diese Waffe überhaupt gibt, ist aber fraglich. Der auf russische Nuklearwaffen spezialisierte Pavel Podvig (57) vom Uno-Institut für Abrüstungsforschung in Genf glaubt nicht, dass es eine solche Mega-Bombe gibt. «Kein Land verfügt über Waffen mit einer Sprengkraft von 100 Megatonnen. Und ich glaube auch, dass dieses System, wie es nun beschrieben wird, niemals Realität werden wird», sagte Povig zu Blick.
Die Unterwasserdrohne Poseidon befinde sich zwar in der Entwicklung, sei aber weit von einer Einsatzbereitschaft entfernt. Auch das U-Boot Belgorod, das sie tragen soll, sei zurzeit nicht einsatzfähig, da es sich im Trockendock befinde. Podvig: «Auch wenn Poseidon fertiggestellt werden sollte, ist es keinesfalls sicher, dass er mit einem nuklearen Sprengkopf eingesetzt werden kann.» (AFP/jmh)