Annalena Baerbock (40) wirbelte den deutschen Wahlkampf auf. Nach ihrer Nominierung als Kanzlerkandidatin zog die Grünen-Chefin weit an CDU/CSU-Kandidat Armin Laschet (60) vorbei. Eine Forsa-Umfrage vom 20. April sah die Grünen für die Bundestagswahl am 25. September plötzlich bei 28 Prozent – die Union nur noch bei 21 Prozent. Die SPD und ihr Spitzenkandidat Olaf Scholz (63), aktuell Vizekanzler in Merkels Kabinett, spielten praktisch keine Rolle.
Eine grüne Kanzlerin: Entweder an der Spitze einer grün-roten Koalition oder einer Ampelkoalition aus Grünen, FDP und SPD. Deutschland war elektrisiert, die Medien begeistert.
«Die Frau für alle Fälle», titelte der «Spiegel» mit einem Foto der strahlenden Baerbock, die sich gegen Co-Parteichef Robert Habeck (51) durchgesetzt hatte.
Die Euphorie verflog schnell. «Wie lang im Jahr 2021 ein Hype-Zyklus dauert, lässt sich gerade ziemlich präzise bemessen: 48 Tage», schrieb Robert Pausch Mitte Juni in der «Zeit». So viel Zeit lag nämlich zwischen dem Jubel-Cover des Spiegels «und einem Onlinekommentar in demselben Medium (‹Das wars›), in dem ihr empfohlen wurde, schleunigst auf die Kanzlerkandidatur zu verzichten».
Mittlerweile halten 65 Prozent der Deutschen Baerbock laut einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen für «nicht kanzlertauglich» – bei ihren männlichen Mitbewerbern sind es nur 47 Prozent (Laschet) beziehungsweise 44 Prozent (Scholz). Am 7. Juli fielen die Grünen in einer Forsa-Umfrage zum ersten Mal seit Anfang März wieder unter die 20-Prozent-Marke: Wäre heute Bundestagswahl, würden die Grünen nur noch 19 Prozent bekommen.
Wie konnte das passieren?
1. Schlamperei bei Nebeneinkünften
Mitte Mai bekam das Sauber-Image von Baerbock die ersten Risse. Die Grünen-Chefin und Abgeordnete hatte Nebeneinkünfte aus den Jahren 2018 bis 2020 zwar ordnungsgemäss versteuert, aber nicht bei der Bundestagsverwaltung angegeben. Eigentlich müssen Nebeneinkünfte innerhalb von drei Monaten gemeldet werden. Baerbock aber meldete die umgerechnet rund 27'700 Franken erst im März 2021. Der Zeitpunkt war pikant: Kurz vorher war die «Maskenaffäre» von CDU/CSU aufgeflogen.
2. Ein geschönter Lebenslauf
Dann sorgte Baerbocks Lebenslauf auf der Website der Grünen für Aufsehen. Ein «FAZ»-Journalist wies darauf hin, dass man etwa nicht «Mitglied» des Flüchtlingshilfswerks UNHCR sein könne – wie die Partei das angegeben hatte. Auch bei Angaben zu ihrem Studium und ihrer (abgebrochenen) Völkerrechts-Promotion musste Baerbock Änderungen vornehmen. Baerbock gestand Fehler ein, gab sich aber kämpferisch. «Ich habe (...) Fehler gemacht, darüber ärgere ich mich tierisch und werde versuchen, jetzt um so stärker das Vertrauen zurückzugewinnen», sagte sie in einem Interview mit dem ZDF.
3. Plagiatsvorwürfe
Doch bevor sie dazu die Chance bekam, legte ihr der österreichische Medienwissenschaftler und (Auftrags-)Plagiatsjäger Stefan Weber (51) in einem Blogbeitrag zur Last, einige Formulierungen aus ihrem erst am 21. Juni veröffentlichten Buch «Jetzt. Wie wir unser Land erneuern» stammten nicht von ihr. Die Grünen sprachen von «Rufmord», schalteten den bekannten Medien-Anwalt Christian Schertz (51) ein – um dann doch einzuknicken. Am Freitag gab Baerbock bekannt, dass das Quellenverzeichnis nachgebessert werde.
Ist Baerbocks Kampagne noch zu retten? Der Verlauf erinnert jedenfalls peinlich an den verunglückten Wahlkampf von SPD-Kandidat Martin Schulz (65) 2017.
Aufgeben will Baerbock nicht. Und ihre Partei versucht zu retten, was zu retten ist. Unter dem Hashtag #BaerbockJetztErstRecht solidarisieren sich die Anhänger mit ihrer Spitzenkandidatin. Auch aus anderen politischen Lagern kommt Unterstützung für die Grüne. «Was mit Annalena Baerbock passiert, wie armselig der Wahlkampf ist», twitterte Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel (61). Er rät Baerbock, die Angriffe als «Wertschätzung» zu nehmen. «Sie wird nur auf ihre politische ‹Schussfestigkeit› getestet.» Der «journalistische Schaum vor dem Mund» verdecke nur den «Voyeurismus, endlich mal wieder eine Frau scheitern zu sehen, die sich wagt, was zu wollen».
Die gute Nachricht für die Grünen: Noch ist die Bundestagswahl mehr als zwei Monate entfernt – also noch mehr als einen Hype-Zyklus. Laut einer neuen «Spiegel»-Umfrage trauen die Deutschen Baerbock ausserdem am ehesten die Modernisierung des Landes zu. Und auch ein Ergebnis von um die 20 Prozent wäre immer noch mehr als eine Verdopplung der Stimmanteile im Vergleich zur Bundestagswahl 2017 (8,9 Prozent).
Nur der Traum vom Kanzleramt – der könnte nun ein Traum bleiben.